Der 15. Juli 2016 gilt als eine harte Bewährungsprobe für die Demokratie in Türkiye: Dieses Datum steht für die Souveränität und den Zusammenhalt des türkischen Volkes – es markiert die Verteidigung der zivilgesellschaftlichen Selbstbestimmung sowie den Schutz von Freiheit und Demokratie. Es symbolisiert aber auch den Widerstand gegen die Feinde der Volkssouveränität und Unterstützer von Terror und Gewalt.
Dieser Tag steht für den Einsatz zur Bewahrung der Verfassung und zur Sicherung der konstitutionellen Ordnung und Unabhängigkeit des türkischen Staates. Seit dem vereitelten Putschversuch 2016 gilt der 15. Juli in Türkiye als „Tag der Demokratie und nationalen Einheit“. Er ist ein Feier- und Gedenktag.
Doch was passierte an jenem Tag? Eine illegale Splittergruppe von Putschisten versuchte in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli die demokratisch gewählte Regierung von Türkiye gewaltsam zu stürzen und den Präsidenten zu töten.
Obwohl das Vorhaben vereitelt werden konnte, wurde ein hoher Preis gezahlt: Die Putschisten, die mehrheitlich der Fetullahistischen Terrororganisation zuzuordnen waren, setzten Panzer, Militärhubschrauber und Kampfflugzeuge gegen die eigene Bevölkerung ein, bombardierten Regierungsgebäude und verübten Verbrechen an der Zivilbevölkerung.
Mehr als 300 Menschen wurden getötet, darunter 251 Zivilisten, etwa 2200 Menschen wurden verletzt. Der Putschversuch wurde durch verfassungstreue Kräfte im Militär und den entschlossenen Widerstand der türkischen Bevölkerung vereitelt.
Putsche und Putschversuche gegen Türkiye
Seit der Gründung der Republik Türkiye wurde der Weg zur Demokratie immer wieder durch Putsche und Umsturzversuche behindert. Analysten weisen darauf hin, dass es nach dem Ende der Einparteiendiktatur 1947 in Türkiye immer dann zu einem Coup kam, wenn das Volk eine Regierung wählte, die den Interessen der antidemokratischen Eliten und ihrer ausländischen Verbündeten zuwiderlief.
1960 stürzte das Militär den in der Bevölkerung beliebten Ministerpräsidenten Adnan Menderes, dessen Meinungsverschiedenheiten mit den transatlantischen Verbündeten immer stärker zunahmen. Kurz darauf wurde er exekutiert. Damit wurde nicht nur der Regierungschef hingerichtet, sondern auch die Volkssouveränität und Demokratie.
1971 gab es einen erneuten Staatsstreich, diesmal durch einen Teil der Generalität – 1980 folgte ein dritter Putsch. Die Generäle wurden in der türkischen Öffentlichkeit immer wieder damit konfrontiert, die Interessen der Nordatlantischen Allianz den Interessen von Türkiye vorzuziehen. Journalisten, die darüber recherchierten, wurden regelrecht gelyncht.
Einige Beobachter zählen auch den mysteriösen Tod von Turgut Özal, ehemaliger Minister- und Staatspräsident, zur Serie von Putschen in Türkiye. Özal verstarb 1993 unerwartet. Etwa 20 Jahre nach seinem Tod deuteten Untersuchungen auf eine Vergiftung hin.
Im Jahr 1997 zwang das Militär den damaligen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan zum Rücktritt, was als sogenannter postmoderner Putsch in die Geschichte einging. Es darf konstatiert werden, dass es bis zur Regierungsübernahme der AK-Partei eine Kontinuität beim Sturz gewählter Regierungen in Türkiye gab.
Der 15. Juli 2016 war nicht der erste Versuch, den heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und die AK-Partei regierungsunfähig zu machen. 2007 blockierte ein Memorandum der Militärführung die Wahl Abdullah Güls zum Staatspräsidenten, jedoch scheiterte das Vorhaben durch Neuwahlen.
Weitere Beispiele sind die Gezi-Proteste 2013 gepaart mit den Korruptionsermittlungen im selben Jahr sowie der Abschuss eines russischen Militärflugzeugs 2015 und die Ermordung des russischen Botschafters Andrey Karlov, die mutmaßlich von der sogenannten FETÖ befehligt wurde.
Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs und aus heutiger Perspektive gefragt: Wer hätte ein Interesse daran gehabt, Türkiye und Russland in einen aufreibenden Krieg zu führen? Der Wählerwille in Türkiye enttäuschte immer wieder Erdoğans Widersacher – sowohl im In- als auch im Ausland. Der Griff zur Waffe und damit die versuchte Schändung der Demokratie und Volkssouveränität blieb diesen Kreisen als letzte Möglichkeit.
Als mutmaßlicher Drahtzieher und Anführer des gescheiterten Putsches gilt Fetullah Gülen, dessen Anhänger in jahrzehntelanger Sisyphusarbeit, allen voran das Militär, Sicherheitsbehörden, Justiz sowie Bildungs- und Erziehungseinrichtungen infiltriert und somit den Putschversuch möglich gemacht haben. Anhänger Gülens sind seit dem Putschversuch massenhaft geflohen, zahlreiche Mitglieder leben in Deutschland.
Deutsche Experten warnen seit Jahren vor FETÖ
Auf die Infiltration des Staates durch „Gülenisten“ machen auch viele deutsche Fachleute aufmerksam. Der Türkiye-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) sowie Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung Istanbul, Kristian Brakel, wirft den Gülen-Anhängern „klandestine Strukturen“ vor.
Spiegel-Reporter Maximilian Popp warnt seit Jahren vor der Organisation. So wies er darauf hin, dass Gülen-Aussteiger bereits 2012 über „sektenähnliche Strukturen“ und eine „Gehirnwäsche wie bei Scientology“ berichteten. Selbst die deutsche Botschaft in Ankara habe in einem internen Bericht darauf hingewiesen, dass sich der konspirative Teil der Bewegung durch strikte Hierarchien auszeichne und „in seiner Struktur an Erscheinungsformen organisierter Kriminalität“ erinnere.
In der Süddeutschen Zeitung bezeichnete Christian Rumpf, Anwalt und Experte für türkisches Recht, die FETÖ als einen „fast geheimen Bund mit größerer Macht als die sagenhaften Illuminati“. Der linke Journalist und Politiker Ahmet Şık nannte die FETÖ in der Frankfurter Rundschau „eine Mafia, die Religion benutzt“.
Erst vor zwei Wochen stellte Jana Treffler in einem Beitrag für die Berliner Morgenpost einige Recherchen zur FETÖ vor: „Sie waren beteiligt an massenhaften Verurteilungen politischer Gegner und der Blockade, wenn nicht sogar Sabotage des Friedensprozesses mit der kurdischen Bewegung“, schreibt Treffler. Sie hält den naiven Umgang mit der Gruppierung in einer pointierten Frage fest: „Der Feind meines Feindes ist mein Freund?“
Die Autorin zitiert in ihrem Bericht u.a. die Anthropologin Kristina Mashimi, die seit zehn Jahren die Aktivitäten der FETÖ im Bildungsbereich in Deutschland und Tansania erforscht. Die Wissenschaftlerin wirft der deutschen Politik Unkenntnis vor und weist auf die Intransparenz und Verschleierungstaktik der FETÖ hin, die sich nach außen tolerant, nach innen aber autoritär zeige. Des Weiteren zitiert Treffler die Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey, die an der Freien Universität Berlin lehrt. Die Forscherin findet die Nähe, die deutsche Politikerinnen und Politiker zur Gülen-Organisation pflegen, „naiv, undifferenziert und unverantwortlich“.
Internationale Organisationen stufen FETÖ als Terrororganisation ein
Es sind nicht nur deutsche Fachleute, die das wahre Gesicht der FETÖ deutlich aufzeigen. So stufen auch internationale Zusammenschlüsse wie die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) die Gruppierung als eine „terroristische Organisation“ ein. Dabei muss man wissen, dass die OIC nach den Vereinten Nationen (UN) die zweitgrößte internationale Organisation auf der Welt ist. Die OIC-Resolution 47/43-POL bewertet FETÖ als eine bewaffnete Gruppierung, die mit Hilfe von zivilen Unterstützern hinter dem Putschversuch vom 15. Juli steht. Die OIC, der 56 islamische Staaten angehören, rief alle Mitgliedsländer auf, Vorkehrungen gegen Vereine, Verbände und Organisationen zu treffen, die weltweit unter dem Einfluss von FETÖ stehen.
Die Auseinandersetzung der OIC mit FETÖ darf in Einklang mit der internationalen und globalen Antiterrorstrategie der UN betrachtet werden. Deshalb ist die Entscheidung der OIC auch als wichtiges Zeichen des politischen und diplomatischen Beistandes mit Türkiye zu werten. Noch bevor die OIC das Terrornetzwerk als solches bezeichnete, hatte auch der Golf-Kooperationsrat (GCC) der arabischen Staaten das Gülen-Netzwerk als „terroristische Vereinigung“ eingestuft.
Indes warnt das türkische Außenministerium immer wieder, dass die FETÖ nicht nur eine Bedrohung der nationalen Sicherheit von Türkiye, sondern auch anderer Länder darstelle. In vielen Ländern wurden der FETÖ nahestehende Organisationen verboten, ihre Mitglieder des Landes verwiesen und ihre Schulen sowie Bildungseinrichtungen der türkischen Maarif-Stiftung übertragen.
Und auch die NATO nahm im Juli vergangenen Jahres am Rande des Vilnius-Gipfeltreffens erstmals die Bezeichnung „FETÖ“ in eine offizielle Mitteilung auf. Umso mehr verwundert es, dass sich andere sogenannte Verbündete von Türkiye nicht dazu durchringen können, eine ähnlich geschlossene Unterstützung zu demonstrieren.