Nach dem Brexit des Vereinigten Königreichs steht nun der „Polexit“ Polens mit einem möglichen Ausscheiden aus der EU auf der Tagesordnung, vor allem seit dem 7. Oktober, als das polnische Verfassungsgericht entschied, dass einige Artikel im Abkommen der Europäischen Union (EU) gegen die Verfassung des Landes verstoßen.
Umstrittene Entscheidung des Verfassungsgerichts
Das Verfassungsgericht, die oberste Instanz der polnischen Rechtsprechung, veröffentlichte am besagten Datum sein Urteil, wonach die polnische Verfassung das höchste Gesetz des Landes ist und internationale Abkommen dieses zu respektieren haben. Mit dieser Entscheidung zielte das Gericht direkt auf Artikel 1 des EU-Vertrags, der die Übertragung von Befugnissen der Mitgliedstaaten an die EU festlegt, und auf Artikel 19, der die Befugnisse des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) regelt. Aus Sicht der EU gibt es keine rechtliche, geschweige denn logische Begründung für diese Entscheidung, da die Mitgliedstaaten sich vor dem Beitritt in die EU verpflichten, sich dem geltenden Regelwerk unterzuordnen. Mit anderen Worten werden Mitgliedstaaten erst dann aufgenommen, wenn sie akzeptieren, dass die EU-Gesetzgebung Vorrang gegenüber der eigenen nationalen Gesetzgebung genießt. Aus diesem Grund übertragen die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer Hoheitsrechte an die EU. In diesem Sinne widerspricht diese Entscheidung der polnischen Justiz zuvorderst der allgemeinen Logik einer EU-Mitgliedschaft.
Dabei ist es wichtig zu wissen, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichtes als Antwort auf die Frage des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki erging, welchem Recht im Falle einer Konfliktsituation Vorrang zukommt. Morawiecki hingegen stellte diese Frage, nachdem der EuGH die 2017 in Polen verabschiedete Justizreform verworfen hatte, die beispielsweise die Wahl der Mitglieder des Verfassungsgerichts durch einen Mehrheitsbeschluss im Parlament vorsah. Die Europäische Kommission forderte Morawiecki im Vorfeld auf, die Anfrage an das Verfassungsgericht zurückzuziehen. Morawiecki hielt jedoch an seinem Anliegen fest, da er sonst riskiert hätte, von der Opposition in die Enge getrieben zu werden. Die EU-Kommission sah mit der Justizreform Polens die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet und forderte den EuGH auf, Polen auf der Grundlage von Artikel 7 des EU-Vertrags, der bei Grundrechtseinschränkungen von Mitgliedstaaten zum Zuge kommt, mit finanziellen Sanktionen zu belegen. Der vorläufig letzte Akt in dieser vorgeblich juristischen Auseinandersetzung war die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober. Der Beschluss hat zwar keine Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der Regierung, da er nur empfehlenden Charakter besitzt, hat aber aufgrund seiner politischen Implikationen zu Spannungen zwischen Warschau und Brüssel geführt.
Polen braucht die EU
Vor der Bewertung eines Polexit-Szenarios ist anzumerken, dass Polen bis dato politisch und wirtschaftlich von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat. Aus politischer Sicht hatte der EU-Beitrittsprozess direkte Auswirkungen auf Polens Demokratisierungs- und Europäisierungsprozess in der postkommunistischen Zeit. Dank des EU-Regelwerks konnte Polen in grundlegenden Fragen wie Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz rasante Fortschritte erzielen. Darüber hinaus waren und sind zunächst die NATO- und dann die EU-Mitgliedschaft Garanten, um Polen vor einer potentiellen russischen Bedrohung zu schützen.
Aus wirtschaftlicher Sicht wurde der EU-Beitritt zu einem wichtigen Wendepunkt für Polen, das in der Zeit nach dem Kalten Krieg versuchte, sich schnell in die westliche Welt zu integrieren. So wurde das Land mit den eingeleiteten wirtschaftspolitischen Maßnahmen seines „Schocktherapie“ genannten Programms in kürzester Zeit reif für die Vollmitgliedschaft und konnte 2004 der EU beitreten. Insbesondere durch die konsequente Liberalisierung seiner Wirtschaft im Rahmen der Mitgliedschaft in der EU konnte Polen sein Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt, das noch 1990 bei etwa 6 000 Dollar lag, auf heute etwa 33 000 Dollar steigern.
Allein schon aufgrund der wirtschaftlichen Vorteile aus der EU-Mitgliedschaft kann konstatiert werden, dass der Verbleib Polens in der EU mit großen Chancen für das Land verbunden ist. Denn ein Austritt Polens, das zu den peripheren Ländern der EU zählt, würde das Land in wirtschaftliche Schwierigkeiten stürzen. So liefert Polen etwa 80 Prozent seiner Exporte in andere EU-Mitgliedsländer und importiert 70 Prozent seiner Einfuhren ebenfalls aus selbigen. Im Falle eines Austritt Polens aus der EU drohen also erhebliche Handelsverluste. Noch entscheidender ist, dass infolge eines Polexits die sogenannten „polnischen Klempner Europas“, die in den Kernländern der EU Arbeit gefunden haben, in das Land zurückkehren müssten. Dies könnte dann auch noch zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit im Land führen.
Polens Austritt aus der EU erscheint zumindest zum jetzigen Zeitpunkt unwahrscheinlich. Und sollte es dennoch zu einem Austritt kommen, würde dieser Polexit in erster Linie Polen schaden. Daher ist es für Warschau durchaus wichtig, die Spannungen mit Brüssel abzubauen und das Thema Austritt von der Tagesordnung zu streichen. Aus diesem Grund erklärte Regierungschef Morawiecki, der sich der drohenden Risiken durchaus bewusst ist, ein Austritt aus der EU unmittelbar nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs stehe nicht auf der Tagesordnung, und unterstrich, dass es nach dem Brexit keinen neuerlichen „Ausstieg“ geben werde.