Während das Europäische Parlament mit seinem jüngsten Ultimatum an die EU-Kommission im „Rechtsstaatlichkeits“-Konflikt mit Polen Öl ins Feuer gießt, hat Deutschlands scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Deeskalation aufgerufen. Sie fordert eine Lösung im Dialog – auch, was die jüngst vom polnischen Verfassungsgericht thematisierte Frage betrifft, inwieweit EU-Recht dem nationalen vorgehen solle. Derweil fordern deutsche Medien einerseits in zunehmend aggressiverem Ton ein hartes Vorgehen Brüssels gegen Polen, warnen andererseits jedoch vor einem möglichen „Polexit“.
EU-Mitgliedschaft von Mehrheit der Polen begrüßt
Ein möglicher Austritt Polens aus der Europäischen Union nach dem Vorbild Großbritanniens wird in Polen nur von wenigen politischen Akteuren befürwortet. Auch in der Bevölkerung halten es Umfragen zufolge 80 Prozent der Befragten für eine grundsätzlich gute Sache, im Jahr 2004 dem Staatenbund beigetreten zu sein.
Vor allem unter Anhängern der konservativen Regierungspartei PiS und unter jüngeren Polen steigt jedoch die Unzufriedenheit mit dem Gebaren Brüssels. Insbesondere die Drohung der EU-Kommission, zugesagte Mittel aus dem Corona-Ausgleichsfonds zurückzuhalten, sollte Polen seine Justizreform nicht zurückhalten, hat auch innerhalb der Regierungspartei zu Irritationen geführt.
Mancherorts wird die EU mittlerweile mit der Sowjetunion und das Vorgehen Brüssels mit der Breschnew-Doktrin verglichen, der zufolge die Zentralmacht berechtigt gewesen wäre, im Wege des „demokratischen Zentralismus“ und im äußersten Fall mit militärischen Mitteln ihren Willen in den Bündnisstaaten durchzusetzen. Polen gehörte im Kalten Krieg dem Warschauer Pakt an, und die in weiten Teilen der Bevölkerung als Okkupanten betrachteten Sowjets hatten 1981 Staatschef Jaruzelski dazu veranlasst, antikommunistische Proteste mithilfe des Kriegsrechts zu bekämpfen.
Morawiecki: Polexit „eine Lüge der Opposition“
Mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der PiS, Ryszard Terlecki, machte tatsächlich ein führender Politiker der Partei Anspielungen auf den Brexit und erklärte: „Die Briten haben der Diktatur der Brüsseler Bürokraten gezeigt, dass diese ihnen nicht behagt, haben sich umgedreht und sind gegangen.“
Die führenden Politiker des Landes, allen voran Premierminister Mateusz Morawiecki, sehen hingegen vor allem die Opposition hinter dem öffentlichen Gerede über einen möglichen Polexit. Dass deren Führer, der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk, jüngst Kundgebungen gegen einen angeblich angestrebten Austritt aus dem Block organisiert hatte, kommentierte Morawiecki mit den Worten:
„Das sind nicht nur offensichtliche Fake-News, das ist schlimmer – nämlich schlicht eine Lüge, um die EU zu schwächen.“
Quod licet Iovi non licet bovi?
Der Konflikt zwischen Brüssel und der Regierung in Warschau geht auf das Jahr 2015 zurück, als die konservative PiS den Posten des Präsidenten und die Parlamentsmehrheit erringen konnte. Sie nutzte diese für ihr Vorhaben einer umfassenden Reform der staatlichen Institutionen, unter anderem auch des Justizwesens.
Polens Regierung hatte eine stärkere Einbindung des Parlaments in die Bestellungsvorgänge von Staatsanwälten und Richtern vorgesehen – im Grunde eine Regelung, wie sie auch viele andere EU-Länder kennen, unter anderem auch Deutschland, wo die Verfassungsrichter durch Bundestag und Bundesrat bestimmt werden. Man wollte damit Korruption und dem Wirken von Seilschaften den Kampf ansagen, die sich noch in der kommunistischen Regierungszeit gebildet hätten, um ihren Einfluss über die Gerichte aufrechtzuerhalten.
In Westeuropa sah man dies hingegen als Versuch an, politisch genehme Richter zu installieren – was dort offenbar vor allem dann als Problem angesehen wird, wenn ein Land eine konservative Mehrheit aufweist. Polen wurde entsprechend zum Ziel von Vertragsverletzungsverfahren wegen einer angeblichen Verletzung des Rechtsstaatsprinzips.
Unerwartet breite Schützenhilfe aus Frankreich
Urteile des Verfassungsgerichts zur Verschärfung der gesetzlichen Schutzmaßnahmen zugunsten ungeborener Kinder oder wie jüngst zum Souveränitätsvorbehalt der nationalen Gesetzgebung gegenüber der EU haben Brüssel und mehrere westeuropäische Regierungen zusätzlich gegen Polen aufgebracht.
Das Verfassungsgericht hatte jüngst entschieden, dass EU-Recht grundsätzlich dann nicht dem innerstaatlichen polnischen Recht vorgehe, wenn dieses gegen die polnische Verfassung verstoße. Vor allem innerhalb des deutschen Machtapparats innerhalb der EU löste die Entscheidung heftige Reaktionen aus.
Andererseits hat sich in Frankreich über mehrere politische Lager hinweg eine Front von Unterstützern der polnischen Entscheidung gebildet, die eine ähnliche Klarstellung auch aus Paris fordern. Dort will man vor allem dafür sorgen, dass Frankreich in seiner Einwanderungspolitik nicht durch europäische Institutionen beschränkt wird.
Die „Monnet-Methode“ als Zankapfel
Der in Polen lebende Historiker David Engels sieht in der „Monnet-Methode“, die vonseiten der EU-Institutionen praktiziert werde, einen der wesentlichen Faktoren für den Konflikt zwischen Warschau und Brüssel. Dieses Konzept geht auf den französischen Unternehmer Jean Monnet zurück, der als einer der geistigen Väter der Europäischen Union gilt.
Monnet, der als Anhänger eines nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch vereinten Europas galt, trat für einen „ergebnisoffenen“ Prozess der politischen Integration der EU ein, der sich nicht durch im Voraus definierte Endziele beschränken ließe. Vielmehr sollte Europa demnach „Taten sprechen lassen“ und „die Solidarität der Tat über Grundsatzerklärungen“ stellen.
Vor allem Frankreich und Deutschland sollten demnach als „Europäischer Kern“ zusammenarbeiten, um das politische Zusammenwachsen der EU voranzubringen. Dass Entscheidungen dabei eher durch Eliten als auf demokratischem Wege getroffen würden, sei demnach eine nötige Voraussetzung, um Tatsachen zu schaffen.
„Souveränität oder Unterwerfung“
Dass unter anderem dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine besondere Bedeutung zukomme, sei demnach Teil des Konzepts. Dieser solle nicht nur der Anwendung geschriebenen europäischen Rechts und der Harmonisierung nationaler Rechtsvorschriften im Lichte der Grundfreiheiten dienen. Vielmehr sieht das Monnet-Konzept den EuGH als Organ an, das geschriebenes europäisches Recht im Geiste der europäischen Einigung weiterentwickeln solle.
US-Politologe John Fonte hatte diese für Europa kennzeichnende Form der Rechtssetzung von oben in seinem 2011 erschienenen Buch „Sovereignity or Submission“ („Souveränität oder Unterwerfung“) als Gegenstück zum souveränen demokratischen Willensbildungsprozess bezeichnet, wie man ihn etwa in den USA vorfände.
Fonte warnte bereits damals davor, dass über supranationale Institutionen oder Gerichtsurteile Staaten Entscheidungen und elitäre und zum Teil radikale Inhalte aufgezwungen werden könnten, für die es auf innerstaatlichem Wege, etwa durch Wahlen, keine Mehrheiten gäbe.
Selbstermächtigung durch EU-Institutionen
Engels sieht dieses Prinzip auch im Zentrum des Streits zwischen Polen und der EU. „Als Polen der Union beitrat, war es davon überzeugt, dass dieses Projekt auf der gemeinsamen Achtung grundlegender sozialer Einrichtungen wie klassischer Familie, Privateigentum, nationaler Identität oder westlicher Zivilisation beruht“, schreibt der Historiker in der Solidarność-Publikation „Tysol“.
Die europäischen Eliten hätten jedoch im Wege der Monnet-Methode über ideologische Auslegungen und Erweiterungen von Begriffen wie Toleranz, Minderheitenschutz oder Gleichheit einen neuen Rechtsrahmen geschaffen, dem sich ihrer Auffassung nach alle Mitgliedstaaten unterordnen sollten – widrigenfalls ihnen die Ächtung als „Rechtsstaatsverächter“ drohe.
Die EU habe sich auf diese Weise selbst dazu ermächtigt, nach Belieben unter Berufung auf diese Rechtssetzungen in die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten einzugreifen – ohne dass diese sich dagegen wirksam zur Wehr setzen könnten.
Polens EU-Mitgliedschaft „kalt kalkulierte Win-Win-Situation“
Engels lehnt zwar ebenfalls einen Polexit ab, sieht jedoch auch keinen Anlass für Polen, sich den Vorgaben aus Brüssel gleichsam aus Dankbarkeit für die Aufnahme in die EU und für den Empfang von finanziellen Zuwendungen zu unterwerfen.
„Moralisch würde kein Spanier oder Schotte akzeptieren, dass Andalusien oder das nordwestliche Hochland weniger zu sagen hätten als andere Regionen, nur weil sie aufgrund ihrer strukturellen Schwäche weniger Geld verdienen, als sie erhalten“, schreibt er in „Tysol“.
Gelder, die von reichen westlichen Staaten nach Osteuropa fließen, seien keine selbstlosen Geschenke des altruistischen Westens, sondern eine Kompensation für die Öffnung Polens zum europäischen Binnenmarkt, von dem nicht zuletzt Anbieter aus dem Westen profitieren – ebenso wie von Infrastrukturprojekten und polnischen Arbeitskräften. Im Kern biete die Mitgliedschaft Polens in der EU eine „kalt kalkulierte Win-Win-Situation“ für beide Seiten.
Deshalb wolle die Mehrheit der Polen keinen Polexit – aber auch Westeuropa könne kein Interesse an einem solchen haben.
Überspannt eine deutsch dominierte EU den Bogen?
Die Europäische Union kennt keinen Mechanismus, um ein Mitglied auszuschließen. Ein Austrittsprozess müsste also von Warschau selbst ausgehen. Dies ist derzeit nicht gewünscht – und der Umstand, dass das Misstrauen gegenüber Russland in Polen mindestens ebenso groß ist wie das gegen Deutschland, macht einen zeitnahen Schwenk in diese Richtung unwahrscheinlich.
Allerdings hat bereits der Brexit gezeigt, dass Überraschungen nie ausgeschlossen werden können, insbesondere dann, wenn europäische Institutionen, etwa die Kommission unter der deutschen Kommissionsvorsitzenden Ursula von der Leyen, selbst den Bogen überspannen.
Wenn ein öffentlich-rechtlicher Kommentator wie Thomas Preiss vom ARD-Hauptstadtstudio offen fordert, Deutschland als „mächtigstes Land des Kontinents“ müsse „endlich seine legendäre Geduld aufgeben“ und solle gegen Polen, das „die Existenz der EU“ bedrohe, „mit allen Mitteln einen Gegenangriff starten“, weckt das nicht nur dort eindeutige Assoziationen – auch wenn vorerst nur finanzieller Druck gemeint ist.
Die scheidende Kanzlerin Merkel scheint realisiert zu haben, dass Forderungen dieser Art, „zurückzuschießen“, auch das eigene Knie treffen könnten. Ob ihre Deeskalationsbemühungen beim Gipfel in Brüssel Erfolg zeitigen werden, wird die Zukunft zeigen.