Zu Neujahr 2020 schrieb ich auf Twitter, dessen ich mich seit knapp einem Jahr bediene: 2020 willkommen! Welch Privileg der 24-Stunden-Stromversorgung - haben Penizillin und können planen. 1920 wüteten Hunger und Spanische Grippe. Mehr Zuversicht tut gut! Geborgenheit in der Geschichte finden, statt täglich das Ende der Welt verkünden. Bitte Respekt für Mensch und Natur.
Bereits einige Wochen später begann sich im Namen der Covid-19-Gesundheitskrise die Welt in atemberaubender Geschwindigkeit zu drehen. Mein Wunsch ans neue Jahr für uns alle erschien mir bald wie ein Treppenwitz der Geschichte. Wir waren plötzlich inmitten eines weltweiten „Lockdowns“ - und ein Ende ist weiterhin nicht absehbar. Was in China mit Stilllegung von Fabriken und Ausgangssperren begann, wurde zu den Iden des März auch in Österreich verordnet. Hatte sich die Bevölkerung anfänglich auf rund drei Wochen Quarantäne eingestellt, stellen wir nun zehn Wochen später fest: wir befinden uns im umfassenden Limbo. Wir können wenig planen, ob für die kommenden Wochen oder den Herbst, der so weit weg erscheint und ganz anders als die aktuelle Normalität sein möge. Der elektrische Strom und das Internet wie auch die Lebensmittelversorgung funktionieren. Weder sind wir im Jahr 1920 noch 1945, es hat kein Krieg mit Bombenhagel und Massensterben stattgefunden, doch wird von Wiederaufbau à la „Marshall Plan“ gesprochen. Das zeugt von ahistorischem Denken, wie es leider in den EU-Institutionen regelmäßig spürbar ist. Laut der Weltgesundheitsorganisation haben wir es mit einer Pandemie zu tun, auf die medizinische und gesellschaftspolitische Antworten gefunden werden müssen.
Indes treten auch die heftigen volkswirtschaftlichen Verwerfungen zutage, vor denen alle, die als Unternehmer tätig sind, von Anbeginn warnten. Wer in der privilegierten Lage ist, 14 Monatsgehälter zu beziehen, denkt anders als jener, der bei Totalausfall sämtlicher Aufträge bald die Reserven aufgebraucht hat. Das gilt für den Künstler genauso wie für den Gastronomen oder den freischaffenden Analysten wie in meinem Fall. Als die Krise sich noch auf die Volksrepublik China reduzierte, war die EU bereits heftig getroffen. In Österreich, wo der Tourismus zu 70 Prozent von ausländischen Gästen lebt, jammerte man im Januar noch auf hohem Niveau über das Ausbleiben der chinesischen Gäste in so manchem Einkaufstempel. Nun geht es um völlig andere Dimensionen. War die deutsche Automobilindustrie im Februar guter Hoffnung, die Aufholeffekte im besonders wichtigen chinesischen Absatzmarkt in den kommenden Quartalen zu nutzen, so sprechen wir nun von Umsatzeinbrüchen zwischen 50 und 90 Prozent bei Autokäufen.
Die EU war wie bereits schon in der Finanz– und Wirtschaftskrise von 2008/09 nicht in der Lage, mit einer Stimme zu sprechen. Die Europäische Kommission sah hilflos zu und redete sich wenig überzeugend auf fehlende Zuständigkeiten in Gesundheitsfragen aus. Präsidentin Dr. Ursula von der Leyen, Medizinern mit Erfahrung in „public health“, hat die ersten Märztage nicht für eine Koordination genutzt. Vielmehr hielt sie an ihrem Terminplan fest, ihr Herzensprojekt, den europäischen „Green Deal“, vorzustellen. Auch die wohlmeinenden Versuche, die 27 Mitglieder für ein gemeinsames Vorgehen im Beenden des Lockdowns zu gewinnen, sind gescheitert. Wenn überhaupt miteinander gesprochen wird, dann bilateral oder in kleineren Gruppen zwischen unmittelbaren Nachbarn. Hier dominiert politisch, zumindest aus österreichischer Sicht, der Tourismus.
Nur Frankreich und Deutschland planen Großes, um den besonders getroffenen Staaten zu helfen. Es geht nämlich wieder einmal um den Euro, um die Verwundbarkeit Italiens. Darauf kündigte bereits eine Gruppe von Nettozahlern ein Veto an, darunter Österreich, dessen zweitwichtigster Handelspartner Italien ist. Deutschland übernimmt ab dem 1. Juli den EU-Vorsitz. Zentral wäre auch ohne diese Krise die Überwindung des Patts in den EU-Budgetverhandlungen. Nun spitzt sich in den Finanzen vieles zu. Hinzu kommen Steuerausfälle und Massenarbeitslosigkeit. Im Herbst können unsere Prioritäten anders lauten. Eine zweite und dritte Epidemie-Welle mit der sogenannten Lockerung politisch anzukündigen, schlägt sich auf das Gemüt der Verzweifelten. Wir alle wissen nicht genau, wann und wie ein Neuanfang nun stattfindet. Wir sind eigentlich noch mittendrinnen oder jedenfalls auf halber Strecke zwischen Gesundheitskrise und schwerer Rezession. Der Weltwährungsfonds hat diese bereits im Vormonat als die größte Rezession seit 1929 angekündigt. Wir kennen die politischen Konsequenzen jener Weltwirtschaftskrise. Europa lag schließlich darnieder, wurde geteilt und wollte seit 1989 wieder zusammenwachsen. In so manchem Außenministerrat musste ich mit Bedauern feststellen, wie sehr die Krämerseelen dominieren, wie wenig politisch und historisch diskutiert wird. Oft forderte ich geopolitische Sensibilität ein - nicht nur angesichts der Rivalität mit China. Dafür erntete ich meist gleichgültiges Desinteresse.
Von der Leyen hatte in ihrer Antrittsrede im Dezember mehrfach verkündet, dass ihre Kommission eine geopolitische sein werde. Doch von geopolitisch Denken oder gar Handeln ist wenig zu spüren. Jeder für sich, alle gegen alle. China, wo die Dinge wieder unter Kontrolle zu sein scheinen, falls sie je außer Kontrolle waren, kann bald auf Einkaufstour in der EU gehen. Wir sind alle mit uns selbst und dem mühsamen Alltag hinter einer Maske sowie wirren Verordnungen beschäftigt.
Selten war die EU so krank wie jetzt. Sie ist ein Hochrisikopatient, der Organtransplantationen braucht, an dem aber Therapien von zu vielen Ärzten getestet werden. Nicht zu vergessen sind die Krankenhauskeime, die noch perfider als so manches Virus sind. So ein Krankenhausaufenthalt kann ganz anders enden als bei der Aufnahme noch geplant war. Zuversicht ist Mangelware.