Die SPÖ, die „große“ linke Partei in Österreich, kämpft nicht nur um das eigene Überleben, sondern auch darum, eine neuerliche rechts-konservative Regierung aus einer Koalition von FPÖ und ÖVP zu verhindern. Immerhin stehen 2024 wieder Nationalratswahlen an, aus denen die 183 Abgeordneten zum österreichischen Parlament hervorgehen. War in Österreich von Dezember 2017 bis Mai 2019 noch die ÖVP der große Partner der kleineren FPÖ und seit Jänner 2020 die ÖVP in einem „das Beste aus beiden Welten“ Regierungs-Versuchslabor mit den Grünen, sind die Karten für das nächste Jahr neu gemischt.
Unmut über Türkis-Grün
Als sich die türkis-grüne Regierung Anfang 2020 aufmachte, konnte niemand ahnen, dass mit Covid und dem Ukrainekonflikt Herausforderungen auf der weltpolitischen Bühne ihr Debüt gaben, mit denen keiner gerechnet hatte. Das stete Mantra des mittlerweile aus dem Amt geschiedenen Kanzlers Kurz „Wir sind besser durch die Krise gekommen als anderen“ hat ohnehin niemand geglaubt, und heute sehen wir uns einer Armuts- und Inflationswelle gegenüber, die ob deren Höhe lange ihresgleichen in der Europäischen Union suchen kann.
Der Unmut über Türkis-Grün steigt ebenso, wie es die Energiepreise taten, und genau dies eröffnet den beiden anderen großen Parteien, nämlich SPÖ und FPÖ, neue Möglichkeiten.
Der rote Überraschungschef
Die SPÖ konnte sich lange Zeit über die erste Frau an der Spitze der Sozialdemokratie freuen. Oder eben auch nicht. Mit Pamela Rendi-Wagner als Bundesparteivorsitzender wurden nicht nur Umfragen, sondern auch echte Landtagswahlen verloren, was den Parteikollegen und Landeshauptmann des Burgenlands, Hans-Peter Doskozil, in letzter Konsequenz dazu veranlasst hatte, eine Mitgliederbefragung innerhalb der Partei durchführen zu lassen. Immerhin war er selbst mehr als nur erfolgreich in seinem Bundesland und ging davon aus, dass sich dieser Trend auch auf Bundesebene fortsetzen ließe.
Doch plötzlich erschien ein dritter Kandidat auf der Auswahlliste, und so kam es, dass weder Pamela Rendi-Wagner weiterhin Chefin der SPÖ sein durfte noch ihr Herausforderer Hans-Peter Doskozil sie beerben konnte, sondern der Bürgermeister des rund 19.000 Einwohner zählenden Dorfes Traiskirchen namens Andreas Babler diese Position nun innehat.
Traiskirchen würde vermutlich kein Mensch kennen, wäre dort nicht einst das Semperit-Werk ansässig gewesen. In aller Munde ist der kleine Ort aber vor allem wegen seiner „Bundesbetreuungsstelle Ost“, besser bekannt als „Flüchtlingslager Traiskirchen“.
Andreas Babler hat es also geschafft, elfter Bundesparteivorsitzender der SPÖ seit 1945 zu werden. Dass er innerhalb eines Abends in zwei TV-Interviews einmal bekennender und glühender Marxist inklusive Lenin-Büste im Büro und kurz danach wieder gar kein Marxist war, möge man ihm verzeihen. Ebenso wie diverse politische Ansichten, die mehr privater Natur denn Parteikonsens sind, beispielsweise sein Faible für Tempo 100 statt 130 als Tempolimit auf heimischen Autobahnen. Der Unterschied zwischen Traiskirchen und ganz Österreich inklusive Berücksichtigung der Interessen der Genossen will eben auch erst gelernt sein.
„Aus dem Volk für das Volk“
„Wo viel Licht ist, ist starker Schatten“, wusste schon Johann Wolfgang von Goethe, und der Schatten, der über Österreich mit steigender Armut und hoher Inflation sowie einem auf Bundesebene unerfahrenen SPÖ-Chef liegt, lässt den einen im Licht erstrahlen, der am 1. März 2019 in seiner Funktion als Innenminister das Erstaufnahmezentrum für Asylwerber in Traiskirchen in „Ausreisezentrum“ umbenennen ließ: Herbert Kickl, seit Juni 2021 Bundesparteichef der FPÖ.
Man munkelt bereits, dass der amtierende grüne Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der den damaligen FPÖ Innenminister im Mai 2019 als ersten Minister der Zweiten Republik entlassen hatte, diesen unabhängig vom Wahlergebnis nicht mit der Regierungsbildung beauftragen wolle.
Denn die Umfragen zeigen, wovor sich viele in Österreich beinahe fürchten: die FPÖ bei der nächsten Nationalratswahl auf Platz 1. Vor allem mit den Themen „Teuerung und Sicherheit“ versteht es Herbert Kickl zu punkten.
Auch gibt er sich in allen Interviews besonders volksnah, ja geradezu amikal gegenüber politisch Andersdenkenden, denen er gerne die Hand reichen möchte, um gemeinsam mit ihnen als Volkskanzler für die „normalen“ Menschen da zu sein. „Ich werde ein Kanzler aus dem Volk und für das Volk sein.“
Babler und die Vranitzky-Doktrin
Es wird noch viel Wasser die Donau hinunterrinnen, bis Österreich tatsächlich einen neuen Kanzler haben wird. Wenn es so weitergeht, was freilich alles andere als sicher ist, wird dieser möglicherweise Herbert Kickl heißen. Das wird nicht nur von der FPÖ selbst, sondern auch von Andreas Babler abhängen. Und von der SPÖ und ihrer Vranitzky-Doktrin, einem immer noch bestehenden Beschluss, nicht mit der FPÖ zu koalieren.