Die Populismus-Falle
Die wichtigste Lehre aus dem Brexit für die europäische Politik ist wohl die Einsicht, welche schwerwiegenden Folgen der Populismus haben kann. Denn eigentlich stellte der Populismus - als politisches Instrument und Diskursstil - den Ausgangspunkt des Brexits dar. Schließlich setzte sich die nationalistische UK Independence Party (UKIP), die als Flaggschiff der EU-Skepsis in Großbritannien agiert, seit vielen Jahren gegen die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens ein und organisierte Kampagnen für ein Referendum, um die Entscheidung über das Ende der Mitgliedschaft herbeizuführen.
Darüber hinaus versprach der damalige Vorsitzende der Conservative Party, David Cameron, auch um möglichen Abwanderungen seiner Basis zuvorzukommen, vor den Parlamentswahlen im Jahr 2015 im Falle eines Wahlsieges über die EU-Mitgliedschaft seines Landes ein Referendum durchzuführen. So tappte er wohl ungewollt in die Populismus-Falle und ebnete gleichzeitig den Weg für einen Prozess, der letztlich zum Referendum führte. Tatsächlich gewann er das Wahlrennen und führte sein Land wie versprochen 2016 zum Referendum. Doch entgegen seinen Erwartungen fiel das Ergebnis zugunsten des Brexits aus, woraufhin Cameron seinen Rücktritt erklären musste.
In diesem Zusammenhang sei auch an den Vorstoß des Vorsitzenden der UKIP, Nigel Farage, erinnert, der angesichts der in die Sackgasse geratenen Brexit-Verhandlungen 2018 sogar grünes Licht für ein neuerliches Referendum gab, um nicht von der Last der politischen Verantwortung erdrückt zu werden. Diese beispiellose Kehrtwende von Farage, der seine gesamte politische Karriere auf den Brexit aufbaute und dafür sogar die UKIP verließ, um eine neue Partei namens „Brexit Party“ zu gründen, verdeutlicht die dem Populismus immanente Widersprüchlichkeit.
Bei der Gesamtbetrachtung und Bewertung dieser realen Entwicklungen seit dem Brexit wird evident, welch verheerende Auswirkungen die inzwischen europaweite Adaption rechtspopulistischer Argumentationen für einzelne Länder haben können. Folglich obliegt es den europäischen Politikern - um eben nicht erneut in die zum Zeitgeist avancierte Populismus-Falle zu tappen -, vor richtungsweisenden Entscheidungen den Finger an den Puls der Gesellschaft zu legen und die Mehrheitsmeinung realistisch einzuschätzen. Andernfalls drohen schwerwiegende Folgen wie der Brexit.
Die parlamentarische Demokratie erfüllt nicht immer die Erwartungen
Eine weitere Lehre, die der Brexit der europäischen Politik hinterlässt, besteht darin, dass die parlamentarische Demokratie aus Sicht der Regierungen nicht immer die in die Demokratie gesetzten Erwartungen erfüllen und teilweise sogar bestehende Krisen verschärfen kann. Nach dem vorläufigen Abschluss der offiziellen Austrittsverhandlungen zwischen London und Brüssel 2017 wurde der entsprechende Textentwurf vom Unterhaus des britischen Parlaments jedes Mal abgelehnt, wenn er zur Ratifizierung eingebracht wurde. Der Grund dafür lag darin, dass nicht nur die Oppositionellen von der Labour Party, den Liberaldemokraten sowie Unabhängige dagegen waren, sondern auch Abgeordnete der Regierungspartei. Dies wiederum blockierte aus Sicht der Regierung letztendlich den Austrittsprozess. Diese Blockade war so dramatisch, dass die ehemalige Premierministerin Theresa May sogar ihren Rücktritt vom Amt anbot, wenn das Parlament das Abkommen zum Brexit billigen würde, was wiederum die Verzweiflung der Exekutive gegenüber der Legislative verdeutlichte.
So war die konservative Regierung, aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Parlament gezwungen, in den Jahren 2017 und 2019 jeweils vorgezogene Parlamentswahlen abzuhalten, um die Brexit-Krise zu überwinden. Vor allem die Wahlergebnisse 2017 waren aus Sicht der Conservative Party eine deutliche Enttäuschung, welche die Brexit-Krise verschärfte, anstatt diese zu überwinden. Schlussendlich unterstützten die Wähler, die der Krise ein Ende setzen wollten, im Jahr 2019 die Conservative Party, um den Brexit endlich zu vollziehen. Die Konservativen gingen gestärkt aus den Wahlen hervor und konnten nunmehr unter der Führung von Boris Johnson alleine regieren, wodurch der Vollendung des Brexits augenscheinlich nichts mehr im Wege stand. Tatsächlich konnte Johnson den von Cameron initiierten und von May fortgeführten Prozess zum Brexit abschließen. Dennoch gingen viereinhalb Jahre durch endlose Debatten und Verhandlungen rund um den Brexit in der gesamten Gesellschaft verloren.
Sowohl der Beitritt als auch der Austritt aus der EU ist nicht einfach
Der Brexit zeigte den Staaten, die einen Beitritt oder einen Austritt aus der EU erwägen, eine Vielzahl von Aspekten auf. Wie man sich erinnern wird, musste Großbritannien beim Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vorgänger der heutigen EU, zweimal das Veto Frankreichs hinnehmen. Erst nach dem Ausscheiden des damaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle konnte die Mitgliedschaft vollzogen werden. In der Zwischenzeit entwickelte sich die EU von einer Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einer Vereinigung, die alle Lebensbereiche umfasst, doch Großbritannien versuchte sich mit dem Gestus eines „Gastmitgliedstaates“ stets von den übrigen Mitgliedsstaaten abzusetzen. Dennoch musste Großbritannien bestimmte Rechte an die EU abtreten und diese somit von London an Brüssel übertragen.
Obwohl sich die britischen Wähler 2016 für den Brexit entschieden, war es für den Staat, der seit fast einem halben Jahrhundert in eine große supranationale Organisation wie die EU integriert war, nicht leicht, die an Brüssel übertragenen Rechte zurückzuholen. Auch wenn Artikel 50 des Vertrags von Lissabon die Rechtsgrundlage für eine Trennung von Mitgliedstaaten bildet, wird dort nicht konkret erklärt, wie und unter welchen Bedingungen ein etwaiger Trennungsprozess vollzogen werden soll. Dies hat zur Folge, dass Staaten, die aus der EU ausscheiden wollen, sich auf Verhandlungen mit offenem Ende einstellen müssen. Auch während der Brexit-Verhandlungen wurde deutlich, dass sowohl aus London als auch aus Brüssel großer Widerstand geleistet wurde, um die eigenen Rechte zu schützen und der Gegenseite möglichst keine Zugeständnisse zu machen. Dies führte zu einem Trennungsprozess, der sich über viereinhalb Jahre hinzog. Unter diesen Gesichtspunkten ist aus Sicht der europäischen Politik festzuhalten, dass es sowohl schwierig ist, in diese supranationale Organisation einzutreten, als auch sie zu verlassen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass aus Sicht der europäischen Politik die Lehren aus dem Brexit, der beide Seiten annähernd fünf Jahre gekostet hat, aufmerksam studiert werden müssen.