Das Bermudadreieck ist ein beliebtes Fortgehplätzchen in der Wiener Innenstadt. Dort hat sich nach dem 11. September 2001 das erste Mal ein Anschlag auf österreichischem Boden ereignet, der auf das Konto eines „Dschihadisten“ geht. Aber nicht nur der Attentäter bekannte sich zum muslimischen Glauben: Auch die Helden des Tages, die in den Medien auf- und abgefeiert wurden, sind bekennende Muslime.
Große Aufmerksamkeit haben die beiden türkischstämmigen Wiener und MMA-Kämpfer erhalten, die am Tatort einem angeschossenen Polizisten sowie einer älteren Dame das Leben gerettet haben. Sie heißen Mikail Özen und Recep Tayyip Gültekin. Der dritte Retter in der Not ist der Palästinenser Osama Joda, der dem angeschossenen Polizisten Erste Hilfe leistete. Und dann ist da noch der Portier Juwan Amir, der im Hotel Wandel mehreren Leuten eine kostenlose Beherbergung zur Verfügung stellte.
„Muslimische“ und „westliche“ Werte
Die Familie von Osama Joda war schon 2019 in den Schlagzeilen – jedoch aus weniger rühmlichen Gründen. Doch nicht die Familie hatte sich was zu Schulden kommen lassen, sondern die niederösterreichische Gemeinde Weikendorf, indem sie der Familie den Kauf eines Hauses verweigert hatte. Die Begründung im Brief hieß: „muslimische und westliche Werte“ seien „unvereinbar.“ Letztendlich siegte aber die Familie, nachdem ihr die Behörde und die Gerichte recht gaben. Nun waren es vielleicht genau diese muslimischen Werte, die Leben retteten.
Diese Werte betonte auch Özen in seinen Interviews. Es war ihm sichtlich wichtig, seine „türkisch-muslimische“ Identität in den Vordergrund zu stellen aber auch Österreich als seine „Heimat“ zu erklären und sich „gegen Terror“ zu stellen. Landeshauptmann Michael Ludwig von der sozialdemokratisch regierten Hauptstadt lud später Özen und Gültekin ins Rathaus ein.
Der Diskurs nach dem Anschlag
Auch die Staatsspitze gab ein konziliantes und nüchternes Bild ab – allen voran und wenig verwunderlich der Bundespräsident. Etwas überraschend, wenn auch ambivalent, war dann doch der Diskurs des Bundeskanzlers und des Innenministers. Auch Sebastian Kurz betonte, es handle sich nicht um keinen „Kampf zwischen Christen und Muslimen“, sondern um einen „Kampf zwischen den vielen Menschen, die an den Frieden glauben, und jenen wenigen, die sich den Krieg wünschen“. War der 2. November nun der Tag, der jene Ruhe und Gelassenheit mit sich bringen würde, die so sehr das Wiener Gemüt ausmacht und gleichzeitig dem politischen Poltern auf Bundesebene widerspricht?
Das Wiener Lebensgefühl
Aber es scheint nicht das Wiener Lebensgefühl zu sein, das so prägnant in der Aussage eines Beobachters des Terroranschlags von einem Fenster mit „Schleich di, du Oaschloch“ zum Ausdruck gebracht wurde, das hier obsiegt, sondern die üblichen Muster eines kulturkämpferischen Diskurses – einhergehend mit einer Law-and-Order-Politik.
So hat der Kanzler gleich 24 Stunden nach dem Anschlag alle möglichen Ausdrücke zur Bezeichnung von Extremismus und Terrorismus in einen Topf geworfen und damit genau jene Uneindeutigkeiten gestärkt, die auf Seiten der Bevölkerung zu jenen Verallgemeinerungen und Stereotypisierungen führen können, denen sich ein Özen und Gültekin verwehren. Wenig verwunderlich ist auch, dass die Zahl der Angriffe auf muslimische Einrichtungen und erkennbare Musliminnen drastisch zugenommen hat. Gleichzeitig wurden Gesetzesverschärfungen vorgeschlagen, um Ausbürgerung und Staatsbürgerschaftsentzug bei Doppelstaatsbürgerschaft zu ermöglichen. Die Freiheitlichen erklärten dabei explizit, dass dies auch bei möglicher Folter in einem anderen Land einzuräumen sei.
Aber genau solche Aussagen und Forderungen spiegeln eine politische Sichtweise wider, die die gesellschaftlichen Probleme nicht als zuhause fabriziert versteht. Stattdessen versucht man sich dieser Probleme auf einfachem Weg zu entledigen. Je schneller der Staat diese Probleme „entsorgt“, desto besser geht es ihm. Das scheint jedenfalls die dahinterstehende Logik zu sein. Aber gerade nach so einem Terroranschlag und den darauffolgenden Geschehnissen sollte klar sein, dass all das zu Wien gehört: das „Oaschloch“ ebenso wie die Helfer.