Bedeutung der Stiftungen für die soziale Entwicklung im Osmanischen Reich
Heutzutage überwiegt die Ansicht, dass Stiftungen ihre soziale Rolle in der Gesellschaft verlieren. Doch die Rolle, die Stiftungen in der osmanischen Gesellschaft einnahmen, kann uns den Weg zur ersehnten Solidarität und Empathie weisen.
Nakşidil Valide Sultan Stiftung in Istanbul (Nakşidil Valide Sultan Stiftung in Istanbul)

Was alles verlieren wir in unserem Leben durch die zunehmende Individualisierung des modernen Menschen im Vergleich zu vergangenen Zeiten? In der Vergangenheit unterhielten die Menschen engere Beziehungen zu ihren Nachbarn, Verwandten und Wohnvierteln. Diese innigen Beziehungen brachten es mit sich, dass man Bedürftige nicht ignorierte und versuchte, ihre Probleme zu lindern. Die Stiftungen verkörperten dabei den Unterstützungswillen und den Solidaritätsgedanken der Gesellschaft. Doch waren Stiftungen Einrichtungen, die nur von Menschen einer bestimmten Einkommensgruppe gegründet werden konnten? Natürlich nicht. Menschen aller Einkommensgruppen konnten im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten eine Stiftung gründen. In welchen Bereichen waren Stiftungen tätig/aktiv? Auf diese Frage kann wie folgt geantwortet werden: Die beste Stiftung war die, welche die dringlichsten Bedürfnisse zu dem Zeitpunkt und an dem Ort erfüllte, an dem sie gegründet wurde. So entstanden sehr außergewöhnliche Stiftungen, beispielsweise die Stiftung für die Behandlung kranker und verletzter Zugvögel oder die Stiftung für die Fütterung von Wildtieren im Winter.

Die Funktion von Stiftungen in der osmanischen Gesellschaft

In der osmanischen Gesellschaft wurden Leistungen der öffentlichen Hand wie Bildung, Gesundheit, Stadtplanung, kommunale Dienstleistungen und Bauwesen, die heute vom Staat organisiert werden, durch das Engagement ehrenamtlich tätiger Menschen unter dem Dach von Stiftungen dargeboten. Das Spektrum dieser Dienstleistungen ist sehr breit gefächert. Im Allgemeinen wurden im Osmanischen Reich Gebetshäuser und Moscheen durch Stiftungen erbaut. Moscheen waren nicht nur Orte für die Verrichtung der Gottesdienste und Gebete, sondern Orte mit Bildungsangeboten sowie Treffpunkte für die Menschen, die dort zusammenkamen, um über Lösungen für lokale und auch weitergehende Probleme des gesamten Reiches zu diskutieren. In unmittelbarer Umgebung einer Moschee wurden öffentliche Brunnen, öffentliche Küchen (imaret), Grundschulen, Medresen und Bibliotheksgebäude errichtet, sodass ein ganzer Komplex entstand. Krankenhäuser wurden ebenfalls mittels Stiftungen eröffnet. Bau und Instandhaltung von Straßen, Brücken, Kanälen, Dämmen, Brunnen und Gehwegen, die gegenwärtig zu den Aufgaben einer Kommunalverwaltung zählen, erfolgten über Stiftungen. Bei den Osmanen zielte eine Stiftung nicht ausschließlich darauf ab, ausschließlich Menschen zu dienen: Es existierten Stiftungen für Schutz, Pflege und Behandlung bedürftiger Tiere.

Die Entwicklung von Stiftungen

Seit Gründung des Osmanischen Reiches spielten Stiftungen in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht eine sehr wichtige Rolle. Der erste Sultan, der bei den Osmanen eine Stiftung gründete, war Orhan Gazi. Er war es, der das notwendige Kapital zur Gründung der ersten Medrese spendete, die er im Namen seines Sohnes Süleyman Pascha errichten ließ. Fast alle Sultane, die nach ihm kamen, setzten diese Tradition fort, die Orhan Gazi begonnen hatte. Im Osmanischen Reich gab es die Tradition, dass Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten Stiftungen gründeten.

Die großen Stiftungen, die von Sultanen und deren Familienangehörigen vor allem in Bursa, Edirne und Istanbul, also den Hauptstädten des Reiches, gegründet wurden, leisteten einen wesentlichen Beitrag zu Entwicklung und Wachstum der Städte. Nach der Eroberung waren es Stiftungen, die mit der Errichtung von großen Komplexen und Bauwerken Istanbuls türkisch-islamisches Erscheinungsbild prägten.

Der wirtschaftliche Beitrag der Stiftungen

Stiftungen zur osmanischen Zeit finanzierten die heute vom Staat verantworteten öffentlichen und kommunalen Dienste in den Bereichen Bildung, Infrastruktur, Gesundheit und Religion. Somit trugen Stiftungen zur Verringerung der sozialen Klassenunterschiede bei, indem sie die Spenden quasi an das Volk umverteilten.

Die von der damaligen Herrscherklasse gegründeten Stiftungen wurden als Instrument zur Stärkung der öffentlichen Ordnung betrachtet, und die von Privatpersonen gegründeten Stiftungen ihrerseits stärkten die Zivilgesellschaft. Während öffentliche Stiftungen einerseits maßgeblich zur Erbringung gesellschaftlicher/öffentlicher Dienstleistungen beitrugen, sollten sie andererseits, um das Ansehen und die Legitimität zu verfestigen, die Gesellschaft vom Wohlwollen und der Großzügigkeit des Sultans, seiner Familie und der herrschenden Klasse überzeugen.

Die Versorgung der Städte nahm einen großen Stellenwert bei den Osmanen ein. Die von Stiftungen betriebenen öffentlichen Küchen zur Deckung des täglichen Nahrungsbedarfs von Bedürftigen spielten insbesondere bei neu eroberten Gebieten eine wichtige Rolle. Die tägliche Armenspeisung wurde auf diese Weise von Stiftungen sichergestellt.

Von Nichtmuslimen gegründete Stiftungen im Osmanischen Reich

Unter der Herrschaft der Osmanen durften Juden und Christen Einrichtungen gründen, die der Funktion einer Stiftung gleichkamen. Obwohl die von Nichtmuslimen gegründeten Stiftungen oft nur den eigenen Gemeinden offenstanden, waren sie weniger als die Mehrheitsgesellschaft daran interessiert, solche Einrichtungen zu etablieren.

Ungeachtet der Hindernisse für die Gründung von Stiftungen durch Nichtmuslime gab es keinerlei rechtliche Erschwernisse für die Einbeziehung von Nichtmuslimen als Begünstigte von Stiftungsdiensten. Ein jüdischer Reisender in den 1640er Jahren berichtet von seiner Reise von Ägypten nach Istanbul, bei der er die meisten Nächte in Karawansereien verbracht hatte, die von Stiftungen bereitgestellt wurden und die für Menschen aller Glaubensrichtungen/Klassen offenstanden. Die durch Stiftungen finanzierten öffentlichen Küchen/Suppenhäuser, Krankenhäuser, Notunterkünfte und andere soziale Hilfsvereine, die auch nichtmuslimische Mitarbeiter beschäftigten, waren ebenfalls für alle Menschen zugänglich. So floss durch die Stiftungen ein Teil des Vermögens der politisch und militärisch dominierenden Muslime an Juden und Christen zurück. Durch diesen Rücktransfer mittels Stiftungen konnten Nachteile durch die erhobenen staatlichen Steuern für Nichtmuslime kompensiert werden.

Die von Frauen gegründeten Stiftungen im Osmanischen Reich

Die Rolle/die Situation der Frau aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht im Osmanischen Reich ist ein faszinierendes Thema, das auch Gegenstand aktueller Forschungen ist. Insbesondere konnten die Aktivitäten der Stiftungen ein Licht auf den Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung werfen. Beispielsweise wurde die Annahme, dass Frauen kein Eigentum besitzen durften, durch Studien zu Stiftungen und deren Stiftern widerlegt. So ist die Tatsache, dass das Eigentum, das für die Gründung einer Stiftung gespendet wurde, zur Gänze im Besitz des Stifters sein musste, Beweis dafür, dass Frauen Eigentum besitzen durften, da sich unter den Stiftern nachweislich auch Frauen befanden. Die erwähnten Studien zeigten, dass nicht nur eine geringe Anzahl auserwählter Frauen, sondern Frauen aus jeder gesellschaftlichen Schicht Eigentum besaßen. Wenn wir uns die Herkunft der Frauen anschauen, die Stiftungen gründeten, so sind manche reich, andere nicht besonders wohlhabend, einige stammen aus Bürokratenfamilien und wiederum andere sind einfache Leute, die eben kein Mitglied einer aristokratischen Familie sind. Da Frauen nicht nur ihr Eigentum aus freiem Willen für die Gründung einer Stiftung spendeten, sondern auch in deren Vorständen aktiv wurden, gestalteten sie auch das wirtschaftliche und soziale Leben aktiv mit.

Obwohl die Osmanen die Tradition der Stiftungsgründungen von vorangegangenen Gesellschaften übernahmen, wurden Stiftungen nicht nur zu einer unverzichtbaren Säule ihres Verwaltungsapparates, sondern von ihnen auch weiterentwickelt. Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Geldstiftungen. Dank dieser Geldstiftungen konnten neben den finanzkräftigen großen Stiftungen, die meist wertvolle Immobilien besaßen, auch einfache Menschen mit geringen Ersparnissen Stiftungen gründen.

Gegenwärtig werden Stiftungen, die in der osmanischen Ära gegründet wurden und deren Treuhänder nicht mehr leben, von der Generaldirektion für Stiftungen verwaltet. Durch diese Stiftungen werden weiterhin bedürftige Menschen unterstützt. Darüber hinaus stiften immer noch Privatpersonen oder juristische Personen neue Stiftungen und lassen somit die Kultur des Teilens und der Hilfsbereitschaft weiterleben.

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