von Emre Bölükbaşı
Mit seinen Gedichten inspirierte er den Unabhängigkeitskrieg einer Nation. Knapp ein Jahrhundert später sind seine Werke immer noch fester Bestandteil der Identität eines Landes: Die Türkei gedenkt anlässlich seines 85. Todestages, der sich am 27. Dezember jährt, ihres Nationaldichters Mehmet Akif Ersoy.
Der begnadete Dichter gilt zugleich als Denker, der sowohl mit der Kultur des Orients als auch jener des Okzident sehr gut vertraut war. Auch politisch wurde er aktiv und versuchte, seinem Vaterland in einer äußerst turbulenten Zeit dienlich zu sein. Der von ihm geschriebene Text zur Nationalhymne sollte den Geist der neu im Entstehen begriffenen Türkischen Republik in tiefgründiger Weise prägen.
Familiärer Hintergrund
Ersoy kam 1873 im damaligen Konstantinopel zur Welt. Seine Familie spiegelte die bunte Zusammensetzung der Bevölkerung des Osmanischen Reiches wider: Die Familie seiner Mutter stammte aus Buchara, sein Vater kam ursprünglich aus Albanien. Der Dichter hieß zwar eigentlich Mehmet Ragif, doch der letztgenannte Name konnte von seinen Freunden nicht problemlos ausgesprochen werden, weshalb aus Ragif mit der Zeit Akif wurde.
Dass Ersoy in einer religiösen Familie zur Welt kam, sollte seinen Charakter und sein Schaffen bis zu seinem Tod entscheidend prägen. Durch seinen Vater, der Islamgelehrter an einer Medrese war, genoss er bereits in einem sehr jungen Alter einen intensiven Islamunterricht. „Sein Vater war ein Islamexperte, der seinen Sohn sehr gut erzog“, teilte einst Selma Argon Ersoy, ein Enkelkind des Dichters, über dessen Familie mit.
Bereits im Kindesalter wurden die Weichen für Ersoys weiteren Werdegang als Denker und Dichter gestellt. Er wies eine hohe Affinität zu Fremdsprachen auf und beherrschte neben Arabisch auch Persisch sowie Französisch. Fuzulis berühmtes Versepos „Laila und Madschnun“ aus dem 7. Jahrhundert gilt als eines der ersten literarischen Werke, die er als Kind gelesen hatte.
Persönliche Schicksalsschläge
Das Jahr 1888 stellte im Leben des Nationaldichters eine Zäsur dar: Er verlor seinen Vater, als er gerade erst 15 Jahre alt war. Den großen Einfluss seines Vaters auf sein Leben beschreibt Ersoy in einem seiner Werke mit deutlichen Worten: „Er ist sowohl mein Vater als auch mein Hodscha. Alles, was ich weiß, habe ich von ihm gelernt.“
Als im darauffolgenden Jahr das Haus der Familie von einem Brand erfasst wurde, erlebte Ersoy binnen kurzer Zeit einen weiteren Schicksalsschlag. Nach diesen einschneidenden Vorfällen entschloss sich der junge Ersoy dazu, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und sich fortan um seine Familie zu kümmern.
Er brach seine Ausbildung an der Verwaltungsschule ab und schrieb sich für das Fach Veterinärwissenschaft ein, da er als Veterinär früher und einfacher in der Arbeitswelt Fuß fassen und somit den Lebensunterhalt der Familie sichern konnte. 1893 schloss er sein Studium – trotz der traumatischen Ereignisse während seiner Studienzeit – als Jahrgangsbester ab.
Ein Versprechen, das er einem Freund während seiner Studienzeit gab, zeigt beispielhaft den Charakter des Dichters: Nach dem Tod eines der beiden Freunde sollte der überlebende auf die Familie des jeweils anderen aufpassen. Ersoy hielt sich 20 Jahre später, in einer für ihn finanziell schwierigen Zeit, an sein Versprechen und kümmerte sich fortan um die Kinder seines verstorbenen Freundes.
Ersoy als Dichter und Abgeordneter
Im selben Jahr begann auch sein öffentliches Wirken als Schriftsteller, als eines seiner Ghasele in der Zeitschrift „Hazine-i Fünun“ veröffentlicht wurde. Seine Gedichte sammelte der Dichter in einem Sammelband aus sieben Büchern zusammen, das den Namen „Safahat“ trägt. Es gilt noch heute als eine der meistgelesenen Gedichtsammlungen in der Türkei.
Der vielseitige Ersoy ist zwar für sein Talent als Schriftsteller bekannt, doch auch in der Politik war der Dichter aktiv. Auf Wunsch des Staatsgründers Mustafa Kemal Pascha, des späteren Atatürk, wurde er 1920 Abgeordneter in der erst neu gegründeten Großen Nationalversammlung der Türkei.
Nach einem späteren langen Aufenthalt in Ägypten kehrte der Dichter in die Türkei zurück und verstarb am 27. Dezember 1936.
Istiklal Marşı – die türkische Nationalhymne
Das Werk, das dem Dichter eine herausragende Stellung in der türkischen Literaturwelt verleiht, ist zweifelsohne die türkische Nationalhymne (Istiklâl Marşı). Ende 1920 wurde dazu ein Wettbewerb durchgeführt – dabei wurden mehr als 700 Gedichte von zahlreichen Poeten eingesandt. Ersoy wollte an dem Wettbewerb zunächst nicht teilnehmen. Der Grund: Es war eine bestimmte Geldsumme als Preis für den Sieger ausgeschrieben worden. Der Intellektuelle konnte dies mit seinen eigenen Idealen und Prinzipien jedoch nicht vereinbaren.
Enge Freunde von Ersoy versuchten ihn anschließend zur Teilnahme an dem Wettbewerb zu überreden. Der Dichter verfasste schließlich seinen Vorschlag für eine türkische Nationalhymne und reichte diesen ein. Das Gedicht wurde am 12. März 1921 in der Großen Nationalversammlung der Türkei vorgelesen und bewegte die Abgeordneten zutiefst – Ersoy gewann den Wettbewerb. Den ausgeschriebenen Preis spendete er an eine Hilfsorganisation.
Einflüsse auf das Wirken von Ersoy
Das Schaffen von Ersoy wurde von den diversen Facetten seiner Persönlichkeit beeinflusst. Er galt als Experte sowohl bezüglich der östlichen als auch der westlichen Welt. So las er die literarischen Werke des Ostens, war jedoch gleichzeitig bestens mit den Werken von Größen wie William Shakespeare, Victor Hugo oder Émile Zola vertraut.
In dem Werdegang des Nationaldichters stechen zwei zentrale Elemente in unübersehbarer Weise hervor: die Liebe zu seinem Vaterland und seine Verbundenheit zum Islam. Beide Elemente spiegeln sich auch spürbar in seinen Werken wider. So zog er im Zuge des türkischen Befreiungskrieges durch das ganze Land und versuchte mit seinen Reden den Widerstandswillen in der Bevölkerung zu beflügeln. Er erkannte, dass der Unabhängigkeitskrieg der einzig plausible Weg hin zur Befreiung der Bevölkerung von jeglicher Unterdrückung durch fremde Mächte war. In einer der dramatischsten Zeiten der türkischen Geschichte versuchte Ersoy, durch seine Werke die Menschen für diese Erkenntnis zu gewinnen.