Von Alia Amir, Adnan Mahmutovic, Ramis Orlu
Das Erstaunliche an der deutschen Sprache ist ihre Plastizität. Sie ermöglicht uns, Substantive zu Verben zu formen oder eine ganze Reihe von Wörtern zu einem einzigen Wort zusammenzufassen. Jahre später werden diese neuen Wörter zu alltäglichen Ausdrücken – sodass wir vergessen, woher sie stammen.
Diese neuen Begriffe werden zu einer sprachlichen Schatzkammer der Geschichte. Sie markieren eine Geschichte der Kreativität und Zerstörung, stehen für Schönheit und Hässlichkeit, Respekt und Vorurteil.
Nur wenige Wörter im Deutschen erfassen die Komplexität historischer Zusammensetzung und Beziehungen wie „getürkt“ - was „gefälscht“ oder „behandelt“ bedeutet. Das Wort geht mit einer ganzen Reihe von Synonymen einher, welche Wankelmut, Falschheit und Verrat bezeichnen: gefälscht, erfunden, falsch oder unecht.
Was die wenigsten wissen: Das Wort „getürkt“ kommt vom „Türken“ – also dem Menschen, der aus der Türkei kommt. Wie kam aber der Türke dazu, ein deutsches Verb zu sein?
„Getürkt“ beinhaltet unsere gleichzeitige Faszination für und Angst vor neuen Technologien. Es geht um die Geschichte von Kunst und Technik, den kulturellen Austausch und die Angst vor dem Unbekannten. Das Wort ist eine Essenz von historischen Beziehungen zwischen Kulturen und Kontinenten.
Von Turquerie bis hin zum „Türkenkalender“
Historisch betrachtet drückt das Wort „getürkt“ unter anderem die Faszination für Muslime und die gleichzeitige Angst vor ihnen in Europa aus. Der Ausdruck mag auf einen historischen Zufall zurückzuführen sein. Könnte aber auch aus einem tief verwurzelten europäischen Vorurteil gegenüber Muslime entstanden sein, das auf das frühe Treffen mit dem Islam zurückgeht. Hauptakteur dürfte hier das Osmanische Reich sein, das im Mittelalter als neue Macht und Gegengewicht zu Europa kulturelle und militärische Kraft besaß – und in der bis dahin gewohnten Welt etwas Unbekanntes darstellte. Auf Augenhöhe.
Türkenmode, Robe à la Turque, Turquerie, türkische Oper sowie die türkischen Räumen sind nur einige Beispiele, die beweisen: Die Begeisterung Europas für alles Türkische war einst allgegenwärtig. Europa hatte begonnen, den Einfallsreichtum seiner muslimischen Eroberer zu übernehmen und es folgten aufregende Entwicklungen in allen Bereichen des modernen Lebens. Es gab offenbar eine Oszillation zwischen Türkenphobie und Türkenphilie. Eine Aneignung der faszinierenden Kultur vermischte sich mit der Angst vor ihrer Präsenz.
Dass Angst als Motor von technologischer Innovation funktionieren kann, lässt sich wahrscheinlich am besten anhand des ersten und vollständig erhaltenen Gutenberg-Drucks veranschaulichen - des „Türkenkalenders“ (1454 gedruckt). Es handelt sich dabei um eine Schrift über den gefürchteten und verherrlichten Orient – über die Türken und die Eroberung Konstantinopels.
Brisant wird das Schriftstück vor allem, wenn man bedenkt: Der „Türkenkalender“ kam raus, noch bevor die vollständige Gutenberg-Bibel gedruckt wurde. Das große Wunder der Druckerpresse, dieses Symbol der Zivilisation, wurde erstmals zum Drucken von Propaganda verwendet.
Der mechanische „Schachtürke“
Die etymologische Spurensuche führt uns zu einem ganz bestimmten Türken: Das Wort „getürkt“ kommt von dem ersten Roboter – dem mechanischen Türken.
Wir schreiben das Jahr 1769 und sind im Hof der Kaiserin Maria Theresia von Österreich. Sie ist an der Spitze der Nation, die das Osmanische Reich 1686 daran gehindert hatte, tiefer in den europäischen Kontinent zu gelangen. Der Legende nach entstand aus dieser Auseinandersetzung der Kipferl, das Croissant in Form des Halbmonds – genauso wie auf der osmanischen Flagge.
Zurück zum Jahr 1769. Damals war es schick, die Kaiserin mit Illusionen – Zauberkünsten und wissenschaftlicher Rafinesse – zu beeindrucken. Der ungarische Ingenieur und Erfinder Baron Wolfgang von Kempelen gehörte zu jener Sparte, die diese Herausforderung annahm. Er versuchte die Kaiserin zu beeindrucken, indem er ihr ein modernes Wunder der Technologie schenkte.
Die Vorstellung des Barons ist eine Momentaufnahme der Menschheitsgeschichte, in der Unterhaltung und Erfindung stets Hand in Hand gehen. Keine Erfindung kommt ohne eine gute Geschichte aus. Das war im alten Ägypten nicht anders und ist auch heute nicht anders, wenn wir mit Siri, Alexa oder Bixby sprechen.
Baron Wolfgang von Kempelen konstruierte den „Schachtürken“ – eine Schachspielmaschine in Menschenform, die selbst die stärksten Herausforderer schlagen konnte, darunter Staatsmänner wie Napoleon.
Dieser verlor der Legende nach während des Vertrags von Schönbrunn bei Wien gegen den Schachroboter. Kurz zuvor hatte Napoleons Armee Österreich in der Schlacht von Wagram besiegt. Nach der Niederlage gegen den „Schachtürken“ soll der Franzose vor Wut die Schachfiguren umgeworfen haben.
Das automatische Gerät bestand aus einem Tisch, auf dem ein Schachbrett lag, und einer Menschenfigur mit Turban – als Nachahmung eines schachspielenden Türken erhielt es den Namen „Türkenroboter“.
Wie der britische Science-Fiction-Schriftsteller und Physiker Arthur C. Clarke sagte, ist eine fortschrittliche technologische Erfindung von Magie nicht zu unterscheiden. Die sozial konstruierte Verbindung zwischen der Exotik der Türkenfigur und dem Schachroboter hat also als Basis orientalistisches Gedankengut. Zweifellos hätte bei dem Bau des automatisierten Schachspielers jede andere Figur verwendet werden können. Die Figur des betrügerischen Türken aber verkörperte die europäische Vorstellung von orientalischem Einfallsreichtum und Betrug; von Exotik und Gefahr, die angeblich von Türken ausgingen.
Schach war schließlich ein Kriegsspiel, das sich von Indien über Persien nach Südeuropa ausgebreitet hatte. Die Wikinger sollen dann das Strategiespiel nach Nordeuropa mitgebracht haben. Beim Schach ging es genauso um Macht wie um den Anschein von Macht. Bei Strategie geht es immer auch um Tricks. Im mittelalterlichen Europa verkörperte der Türke als erfolgreichster Eroberer all diese Eigenschaften.
Das Wort weitete sich im alltäglichen Sprachgebrauch aus und fand auch jenseits des Roboters Verwendung. Dies bedeutete auch: Immer wenn ein Betrug oder eine Fälschung vorlag, war die Quelle beim „exotischen Muslim“ zu verorten. So wird zum Beispiel „getürkt“ benutzt, um die berüchtigte Fälschung der Tagebücher von Adolf Hitler durch Konrad Fischer (richtiger Name: Konrad Kujau) zu beschreiben.
Getürktes ohne Türken
Die Ironie an der ganzen Geschichte des Wortursprungs liegt darin, dass weder an der Herstellung des Schachautomaten noch bei den gefälschten Tagebüchern irgendwelche Türken beteiligt waren. Der Betrug wird von einem Insider oder Einheimischen vollzogen, der unter dem Deckmantel von Vorurteilen und Exotik ein solches „Kunststück“ vollbringt.
Auf ähnliche Weise funktionierte der Literaturbetrieb: Es wurden exotisierte Bilder der orientalischen Poeten Rumi und Hafez verwendet, um angeblich „Übersetzungen“ ihrer Gedichte zu verkaufen. Dabei waren es oft Originalwerke westlicher Dichter - die uns alle getürkt haben. Das Türken ist also durchaus eine alte Marketingstrategie, die in Europa Erfolg versprach.
Die Idee vom bärtigen Mann mit Turban ist noch heute als Sinnbild für „den Muslim“ weit verbreitet. Immer noch tun wir uns schwer, muslimische Wissenschaftler als allgemeine Kategorie zu identifizieren. Wir sind nicht in der Lage, sie in verschiedenen Altersgruppen, Ethnien und Geschlechtern zu visualisieren. Das verfestigte Bild vom bärtigen Mann mit Turban ist in unserer Welt durchaus problematisch: Es impliziert uns, Muslime gehörten als Fremdlinge in die Vergangenheit und in außereuropäische Räume.
An dem mechanischen Schachtürken ist die problematische Positionierung von Muslimen in Europa ganz klar erkennbar. Wie kein anderer Gegenstand gibt dieses Gerät Aufschluss über eine Mentalität: Die Idee vom Muslim als Nicht-Europäer. Damit läuft man Gefahr, das muslimische Erbe in Europa zu löschen, insbesondere das der muslimischen Wissenschaftler. Man verkennt, dass die muslimische Wissenschaft im Wesentlichen europäisch ist und dass die europäische Wissenschaft in ihrem Kern muslimisch ist.
Das Goldene Zeitalter der muslimischen Wissenschaft ist etwas, auf das wir als Teil unserer europäischen und sogar globalen Geschichte stolz sein sollten. Von scheinbar beeindruckenden Bildern exotischer Männer sollten wir nicht länger getürkt werden – denn niemand identifiziert sich heutzutage damit.