von Ali Özkök
Der an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn lehrende Theologe und Kirchenrechtler DDr. Norbert Lüdecke wirft den Bischöfen seiner Kirche in Deutschland vor, Muster und Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch jahrzehntelang ignoriert zu haben.
Im Gespräch mit TRT Deutsch erläutert er zudem, warum der „Synodalen Weg“, den die Deutsche Bischofskonferenz als wichtigen Weg zur Erneuerung rühmt, nach seiner Überzeugung keinerlei Reformen ermöglichen wird.
Lüdecke erläutert darüber hinaus die Grenzen der Gestaltungsmacht, an die selbst Großveranstaltungen wie das II. Vatikanische Konzil im System der Katholischen Kirche stoßen.
Während manche im sogenannten Synodalen Weg die Gefahr einer weiteren deutschen Nationalkirche sehen, gehen Ihnen, wie Sie in Ihrem Buch schreiben, die Reformen in der Katholischen Kirche in Deutschland nicht weit genug. Warum sollte die Katholische Kirche ausgerechnet hier eine Vorreiterrolle einnehmen?
Mit dem Stichwort „Nationalkirche“ wird der Synodale Weg gnadenlos überschätzt. Und mir geht es weder um eigene Reformforderungen noch erst recht um die Empfehlung einer deutschen Vorreiterrolle. Ich beschreibe in meinem Buch nur verwundert den Widerspruch zwischen der öffentlichen (Selbst-)Darstellung dieses von den deutschen Bischöfen initiierten Gesprächsarrangements und seiner tatsächlichen Bedeutung. Auf diesem Weg sind keinerlei grundlegende Reformen möglich. Er dient vielmehr einmal mehr der Beruhigung einer durch den Missbrauchsskandal aufgewühlten Laienschaft.
Die Verantwortung der Bischöfe beim Thema Missbrauch bleibt häufig im Schatten. Wie bewerten sie den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester aus kirchenrechtlicher Sicht?
Spontan als Katastrophe. Aber der Ausdruck ist gefährlich, denn es geht nicht um etwas, das einfach so hereinbricht. Es ging immer und geht bis heute um Verbrechen von Männern, die mit ihrem Tun alles konterkarieren, wofür die Katholische Kirche eigentlich stehen will. Und dieses Übel wurde und wird noch enorm potenziert von Bischöfen, die solche Verbrechen als bloße Sünde behandelten und de facto deckten, womit sie Wiederholungstaten ermöglichten, und bis heute nicht gewillt sind, dafür persönliche geschweige denn politische Verantwortung zu übernehmen.
Seit Jahren halten Debatten über Missbrauch durch Kirchenvertreter an. Warum kommt in dieser Frage dennoch keine Bewegung rein? Wo sehen Sie in diesem Bereich besonderen Veränderungsbedarf?
Dass die Debatten nicht aufhören, dürfte an der (ver)schleppenden Reaktion liegen. Die Leute merken ja, wie das lange Spiel der Bischöfe auf Zeit ein Spiel mit der Lebenszeit der Betroffenen ist. Wenn man bedenkt, dass Kindesmissbrauch durch Priester seit knapp 40 Jahren als Phänomen öffentlich bekannt ist, ohne dass deutsche Kirchenmänner zumindest erkennbar auf die Idee kamen, eine weltweit nach denselben Grundmustern organisierte Kirche könne auch hier ein Muster entwickelt haben, dass wir nach all den Jahrzehnten immer noch Aufklärungsbedarf haben und von einer Aufarbeitung im Sinne der genauen Konturierung und Kartierung von systemischen Risikofaktoren immer noch weit entfernt sind, dann muss man sich über weitergehende Debatten nicht wundern.
Schon längst wären unabhängige staatliche Untersuchungen erforderlich gewesen. Aber dafür gibt es ja bekanntermaßen quer durch alle Parteien und natürlich erst recht in einem Wahljahr keinerlei politischen Willen. Auch hier scheint die Rücksicht auf Institutionen wichtiger zu sein als Gerechtigkeit für betroffene Personen.
Sie kritisieren bei den deutschen Bischöfen unter anderem eine „Demokratie- und Parlaments-Phobie“. Warum ist gerade das so wichtig, um Probleme wie Missbrauch anzugehen, und geht es in einer Religion nicht eher um Wahrheiten als um Mehrheiten?
Ich beschreibe diese Phobien, die Bischöfe immer wieder dann zu erkennen geben, wenn Laien an der innerkirchlichen Willensbildung entscheidend und nicht nur beratend teilhaben wollen. Für die Bischöfe dürfen die Laien zwar im Verbandskatholizismus Demokratie üben, aber nicht in der verfassten Kirche als solcher. Und das Ausspielen von Wahrheit gegen Mehrheit ist letztlich eine Killerphrase.
Die katholischen Wahrheiten, die etwa ein Konzil verkündet, werden neben dem entscheidenden Votum des Papstes ja durchaus auch per Abstimmung ermittelt, und der Heilige Geist wird dann bei der Mehrheit vermutet: Als auf dem I. Vatikanischen Konzil Papst Pius IX. die einmütige Befürwortung seiner geplanten Unfehlbarkeit durch vorauszusehende 20 Prozent Gegenstimmen gefährdet sah, änderte er kurzerhand die Geschäftsordnung und ließ eine einfache Mehrheit ausreichen.
Das Zweite Vatikanische Konzil war der Ratzinger-Biografie von Seewald zufolge ein vorwiegend von deutschen Theologen forcierter Neuerungsprozess, der eine Reihe sehr grundlegender Veränderungen in die Katholische Kirche brachte. Die Kirche sollte sich auf diese Weise verbreitern und noch stärker der Welt öffnen, so der Anspruch. Tatsächlich ist seither die Zahl der Katholiken und vor allem die der Gottesdienstbesucher in Deutschland drastisch zurückgegangen. Ist das Konzil damit nicht ein Beispiel für den Satz: „Gut gemeint ist das Gegenteil von gut“?
Zunächst einmal ist dieser Fehlschluss „danach, also deshalb“ als solcher schon platt und in der Sache auch längst widerlegt: Es ist bekannt, dass die „Erosion der Gnadenanstalt“ (Michael N. Ebertz) als Abschmelzen von Kirchlichkeit längst im Gange war, als das Konzil tagte. Und dann scheint sich mir die lange und immer noch lebendige Überschätzung des Reformpotenzials dieses Konzils durch viele Katholiken in der Überschätzung seines Gefahrenpotenzials bei den vermeintlichen Bewahrern der Tradition zu spiegeln.
Bei aller weltoffeneren Perspektive und Diktion dieses Konzils (wobei die einzelnen Dokumente auch diesbezüglich von sehr unterschiedlicher Qualität sind), bei aller Verlebendigung einer konziliar in seiner Taufwürde amtlich aufgewerteten Laienschaft muss man doch, wenn mal einmal einen Schritt zurücktritt, sehen, was dieses Konzil war und was man von ihm erwarten bzw. nicht erwarten kann. Es sagt bereits viel aus, wenn Laien sich für Veränderungen in der Kirche auf eine Veranstaltung berufen müssen, die klerikaler kaum sein konnte. Allein Männer mit Bischofsweihe entschieden dort. Die beratenden Konzilstheologen waren damals fast alle Priester. Ein Konzil ist eine Art gestreckter Weltbischofstag. Als Ereignis wie in seinen Ergebnissen bleibt es in der Hand der Päpste. An die einfachen Verfügungen eines Konzils ist ein Papst nicht gebunden, und er kann sie jederzeit ändern. Und er legt auch verbindlich aus, was das Konzil gelehrt hat und was nicht. Keine noch so gut begründete Theologeninterpretation kommt gegen diesen formalen Autoritätsvorsprung an.
Weltweit wächst die Katholische Kirche nach wie vor, allerdings nicht in Europa und Nordamerika. Sind die hiesigen Reform- und Demokratisierungsdebatten aus der Sicht von Gläubigen in Afrika, Asien oder Lateinamerika da nicht nur First World Problems?
Das mag so sein, aber ich sehe nicht, was es bringt, das gegeneinander auszuspielen. Es geht letztendlich um Spannungen vor dem Hintergrund der Menschenrechtstradition – wohl kaum ein reines First World Problem. Außerdem gibt es weltweit theologische Bemühungen um Gleichberechtigung in der Kirche. Wenn hiesige Strukturdebatten durch Hinweise auf die Dritte Welt oder gar die Gottesfrage als letztlich belanglos herabgewürdigt werden, ist immer zu fragen, wer vom rechtlichen Status quo profitiert.
Mit Blick auf die personelle Zusammensetzung der Deutschen Bischofskonferenz: Wem würden Sie es am ehesten zutrauen, perspektivisch jene Veränderungen zu veranlassen, die Ihnen für die Katholische Kirche in Deutschland vorschweben?
Keinem. Denn das ist keine Frage von Personen, sondern eine der Strukturen, des Systems. Auch die deutschen Bischöfe sind Männer, die nach einer intensiven, schon ihr Studium begleitenden klerikalen Sozialisation auch in ihrer späteren klerikalen Laufbahn beim Apostolischen Nuntius, der Römischen Kurie und letztlich dem Papst den Eindruck einer absoluten Loyalität und verlässlichen Gefolgschaftstreue hinterlassen haben. Ihren Gehorsam in Doktrin und Disziplin haben sie mehrfach und zuletzt vor ihrer Amtsübernahme geschworen. Man schaue sich den von ihnen geforderten und geleisteten Treueid nur einmal an: Darin hat jeder, der heute Bischof ist, dem Papst umfassende Treue und absolute Loyalität geschworen.
Von Amts wegen haben Bischöfe in ihren Bistümern zudem Vermittler, Garanten und Wächter rechter Lehre und Ordnung zu sein. Bischöfe sind per definitionem Konservatoren, nicht Innovatoren. Schlägt das Gewissen eines Bischofs einmal nonkonform aus, bringt ihn das zunächst in einen Selbstwiderspruch. Hält er diesen durch, gerät er in die kollegiale Isolation und dann in Widerspruch zum System. Und wie das reagiert, ist am Schicksal des konsequent für Reformen eingetretenen französischen Bischofs Gaillot abzulesen, den der Papst Anfang 1995 aus dem Amt nahm.
Vielen Dank für das Gespräch!