von Ali Özkök & Burcu Karaaslan
Am Dienstag jährt sich der Terroranschlag in Wien vom 2. November 2020 zum ersten Mal. Beim terroristischen Attentat wurden vier Personen getötet. Weitere 23 Personen wurden damals in der Wiener Innenstadt verletzt.
Der vermutlich einzeln handelnde 20-jährige Attentäter Kujtim Fejzulai, der in Österreich geboren war und dessen Eltern aus Nordmazedonien stammen, wurde von der Polizei erschossen. Er galt als Sympathisant der Terrororganisation Daesh. Nach dem Anschlag brach eine landesweite Debatte über Versäumnisse der Sicherheitsbehörden aus. Kritiker unterstellten den Sicherheitsbehörden, unter anderem mangelhaften Daten- und Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden und fehlerhafte Gefährdungseinschätzung.
Walter Feichtinger ist ehemaliger Brigadier des österreichischen Bundesheeres und Politikwissenschaftler. Er war von 2002 bis 2020 Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement an der Landesverteidigungsakademie in Wien. Aktuell ist er Präsident des „Center für Strategische Analysen“. Mit TRT Deutsch sprach er über die Bedeutung und Konsequenzen des Terroranschlags in Wien von 2020. Der Terroranschlag von Wien jährt sich zum ersten Mal. Wie hat sich der Anschlag im Bewusstsein Österreichs niedergeschlagen?
Das war wirklich ein Schock für die österreichische Bevölkerung. Das war ein absoluter Ausnahmezustand. Ich habe das selber fast am eigenen Leibe erfahren, weil ich in genau zwei Stunden vorher an einer betroffenen U-Bahnstation mit meiner Frau vorbeigegangen war, wo dann später der Attentäter geschossen und Leute getötet hat.
Dieser Schock wirkt bis heute nach und es ist ein Bewusstsein entstanden, dass es auch uns in Österreich treffen kann. Wir haben ja schon vorher in vielen Orten Europas von diesen furchtbaren Terroranschlägen gehört – und sie auch gesehen. Dann ist es nach Wien gekommen. Das war ein fürchterliches Erlebnis.
Vergangenes Jahr erklärten Sie: „Es war für mich immer nur eine Frage des Wann, Wie und Wo, dass auch in Österreich ein Terroranschlag passieren wird.“ Wieso rechneten Sie mit einer solchen dramatischen Entwicklung?
Ich beschäftige mich schon seit 2001, also seit dem 11. September, mit der Entwicklung des Terrorismus, vor allem auch in europäischen Ländern und in westlichen Ländern. Es war für mich wirklich nur eine Frage der Zeit. Wir haben Madrid 2004 und London 2005 gesehen. Viele weitere europäische Hauptstädte und größere Städte wurden von Terroranschlägen erfasst. Es wurde schnell klar, dass hier nicht immer eine große Planung dahinterstecken muss, sondern dass es sich um Einzelpersonen handeln kann, die sich radikalisiert haben und die dann völlig unberechenbar zuschlagen.
Daher war es für mich wirklich keine Frage, dass das auch in Wien passieren kann. Außerdem: Wien ist international ein sehr renommierter Standort. Das macht es für mögliche Attentäter natürlich zu einem attraktiven Anschlagsort.
Der slowakische Geheimdienst hatte die österreichischen Kollegen vor dem Anschlag gewarnt und mitgeteilt, dass der Verdächtige zuvor im Juli in das Nachbarland gereist war, um Munition zu kaufen. Der österreichische Inlandsgeheimdienst hat jedoch daraufhin keine konkreten Maßnahmen ergriffen. Wie lässt sich diese Untätigkeit in einem solchen konkreten Fall überhaupt erklären?
Das wird seit einem Jahr vor allem im Innenministerium ganz intensiv behandelt. Es kam zu erheblichen Änderungen bei den Abläufen. Natürlich ist es unglaublich bedauerlich und auch kein großes Ruhmesblatt, dass es hier zu solchen Fehlleistungen gekommen ist. Es war ja nicht so, dass nichts getan wurde, sondern es fehlte einfach die Zusammenschau aller relevanten Stellen. Es war sicher auch das Manko, dass man in dieser Frage keine Erfahrungen hatte.
Der positive Effekt im Nachhinein ist für mich, dass man hier wirklich erkannt hat, worauf es ankommt, sich sehr intensiv mit anderen Ländern und anderen Nachrichtendiensten austauscht. Terror hält nicht vor Staatsgrenzen, er bleibt nicht stehen. Eine unglaublich intensive Zusammenarbeit ist hier erforderlich und das ist die größte Lehre aus dem Anschlag.
Der gesamte nachrichtendienstliche Bereich wurde im Innenministerium diesbezüglich umgegliedert. Es wurde ein großer Änderungsbedarf erkannt.
Der Attentäter wurde 2018 in der Türkei festgenommen, als er versuchte, nach Syrien zu reisen, um sich der Terrorgruppe Daesh anzuschließen. Ist vor diesem Hintergrund eine Intensivierung der Kooperation bei Sicherheitsfragen zwischen Wien und Ankara denkbar?
Die Türkei ist hier ein ganz zentraler Akteur, man denke nur an die unmittelbare Nachbarschaft zu den Kriegsgebieten im Irak und in Syrien. Und dass die Türkei hier über exzellente Informationen und Aufklärungsdienste verfügt, ist weltweit bekannt. Daher wäre es völlig unverständlich, wenn man nicht gerade mit der Türkei in diesem Themengebiet intensiv zusammenarbeitet. Das ist auch eine der Lehren aus dem letzten Jahr, dass man diese Zusammenarbeit suchen muss. Ich weiß, dass auf beiden Seiten hier Profis unterwegs sind, und gehe daher davon aus, dass es hier eine sehr gute und intensive Zusammenarbeit gibt.
Der Islam lehnt Terroranschläge jeglicher Form ab, dennoch berufen sich manche Extremisten auf die Religion. Würden Sie Radikalisierungspräventionen, auch eine engere Kooperation mit Moscheegemeinden, als sinnvoll erachten?
Alle, die dazu beitragen können, gegen Radikalisierung etwas zu unternehmen, sollten das tun – nicht nur sollen, sondern sie müssen es tun. Das muss eine moralische Pflicht sein für alle, denen ein gedeihliches Zusammenleben am Herzen liegt. Daher ist es für mich weniger wichtig, welche Organisation das ist, sondern dass hier der Geist besteht, etwas dagegen zu unternehmen.
Selbstverständlich muss jede Zusammenarbeit und das Ziel jeder Zusammenarbeit auf Grundlage der gesetzlichen Basis in jedem Land passieren. Das ist vollkommen klar. Aber ansonsten sollte es hier keine Barrieren und Hemmschwellen geben in der Zusammenarbeit, wenn das gemeinsame Ziel klar ist, und das Ziel ist, Radikalisierung vorzubeugen, zu verhindern.
Vielen Dank für das Gespräch!