In Deutschland stottern rund fünf Prozent der Kinder, vier Prozent mehr als bei den Erwachsenen. Bei mehr als drei von vier Kindern verliert sich die Symptomatik jedoch wieder – oder kann erfolgreich therapiert werden.
TRT Deutsch sprach mit der Logopädin Martina Wiesmann, die selbst seit ihrer Kindheit Probleme mit dem Stottern hat und im Alter von 19 Jahren erfolgreich eine Stottertherapie machte.
Wiesmann ist Mitglied des Deutschen Bundesverbandes für Logopädie (dbl) und ehemaliger Bundesvorstand der Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe (BVSS), für die sie auch betroffene Kinder und ihre Eltern berät.
Frau Wiesmann, wann fangen Kinder in der Regel an zu stottern?
Das beginnt meist zwischen dem zweiten und sechsten Lebensjahr. Unter den Erwachsenen liegt die Anzahl derjenigen, die stottern, in Deutschland jedoch nur noch bei einem Prozent. An diesen Zahlen sieht man deutlich, dass circa 75 bis 80 Prozent der Kinder das Stottern bis zur Pubertät wieder verlieren – durch Therapie oder auf natürliche Weise. Im späteren Alter verliert sich das Stottern seltener.
Wann sollten Eltern mit ihrem Kind zum Logopäden gehen?
Wenn ihr Kind erste Stottersymptome zeigt, suchen viele Eltern sofort eine logopädische Praxis auf. In vielen Fällen reicht die Erstberatung schon aus. Der Logopäde führt eine Beratung durch oder stellt eine Diagnose, je nach Auffälligkeit und Dauer. Wenn das Kind beispielsweise länger als ein halbes Jahr stottert, schlägt er auch eine Stottertherapie vor.
Das ist jedoch von der Qualität und Häufigkeit des Stotterns abhängig. Wenn wir sehen, dass das Stottern noch ganz locker ist und das Kind überwiegend flüssig spricht, warten wir lieber ab. Mitunter gibt sich das Stottern von allein. Die meisten Kinder kommen gar nicht erst in die Praxis.
Wann macht eine Stottertherapie Sinn?
Therapie macht vor allem dann Sinn, wenn sich das Stottern in unfreiwilligen Unterbrechungen im Redefluss zeigt, z.B. durch Wiederholungen von Teilen eines Wortes („i-i-i-ich“), Dehnungen („Mmmmmarmelade“) oder Blockaden vor oder während des Sprechens („-----Apfel“). Diese Symptome sind die Kernsymptome beim Stottern und können von anderen Begleitsymptomen wie Vermeidungsverhalten, Mitbewegungen und negativen Gefühlen begleitet sein.
Manche Kinder vermeiden in Folge Sprechsituationen, verlieren die Sprechfreude oder versuchen, ihre Stottersymptome durch Umstellen von Sätzen oder Nuscheln zu verbergen. Andere Kinder sind emotional beeinträchtigt und brechen den Blickkontakt ab aus Scham, Angst oder Wut.
Worin liegen denn die Ursachen für das Stottern?
Man vermutet, dass 80 Prozent des Stotterns genetisch bedingt sind und eine Veranlagung zum unflüssigen Sprechen mit in die Wiege gelegt wird. Die Annahme geht dahin, dass die Ursache eine neurophysiologische Störung bzw. eine körperliche Funktionseinschränkung ist, die zu stottertypischen Sprechunflüssigkeiten führt.
Es kommen jedoch auch psychologisch-soziale Faktoren hinzu, die das Stottern verstärken können. Ich selbst stottere übrigens auch seit meiner Kindheit.
Wie haben Sie als Kind das Stottern bei sich selbst erlebt – und wie ist es heute?
Jetzt, im Erwachsenenalter, stottere ich nur noch gelegentlich und habe eine hohe Sprechflüssigkeit. Ich würde sagen, dass ich das Stottern insofern überwunden habe, als dass ich damit heute sehr locker und entspannt umgehe und es mich nicht mehr belastet. Insofern fühle ich mich als flüssig sprechender Mensch.
Wenn man als Kind stottert, wird das Stottern oft durch Situationen verstärkt, vor denen man sich fürchtet, weil man Angst hat oder sich schämt, z.B. in der Schule, wenn man sich meldet. Dann verstärken die erlernten Gefühle das Stottern und machen die Situation schwieriger.
Das Stottern hat also vor allem psychische Folgen für Kinder?
Ja. Kinder lernen im Laufe der Zeit auf Grund ihrer Erfahrung mit der Sprechunflüssigkeit, wie das Umfeld auf ihr Stottern reagiert. Das ist nicht immer wertschätzend und neutral. Kinder werden ausgelacht, oder ihre Eltern setzen sie ungewollt unter Druck. Das spüren sie. Manche Kinder können Sätze nicht immer zu Ende sprechen, weil ihre Eltern die Sätze für sie beenden. Manche haben dadurch den Eindruck, sie müssten schneller sprechen. So kommen verschiedene Faktoren zusammen, wodurch Gefühle wie Angst vor dem Stottern, Scham, Wut und Ärger entstehen.
Was können betroffene Kinder selbst tun – und was raten Sie dem Umfeld?
Es ist gut, wenn Kinder das Stottern ansprechen und mit Freunden, Eltern und Lehrern darüber reden. Es ist wichtig, dass sie sich vertrauensvoll an Eltern und Lehrer wenden, sagen, dass sie mit Sprechen ein Problem haben und sich Hilfe holen.
In der Schule können Schüler gemeinsam mit dem Lehrer überlegen, wie man im Unterricht vorgeht. Der Lehrer kann den Schüler z.B. nur drannehmen, wenn es freiwillig ist. So erfährt das betroffene Kind nicht soviel Druck.
Der Versuch, nicht zu stottern und das Stottern zu verstecken, ist für Kinder sehr anstrengend und gelingt meist nicht. Häufig erzeugt dies Stress, und das Stottern verschlimmert sich dadurch.
Wer hingegen weiß, dass ihn Lehrer und Mitschüler mit dem Stottern so akzeptieren, wie er ist und sie ihn auch mit dem Stottern mögen, für den ist schon viel erreicht. Kinder lernen dadurch, dass das Stottern nur ein kleiner Aspekt ist, und es noch viele andere Dinge gibt, die sie ausmachen. Das Umfeld sollte also das kindliche Selbstwertgefühl stärken.
Welche Behandlungsmöglichkeiten für Kinder gibt es aktuell in Deutschland?
Die Leitlinien empfehlen unterschiedliche Therapieansätze: Eine davon ist die Stottermodifikation, die sich bei Erwachsenen Van-Riper-Therapie, in der Abwandlung für Kinder „KIDS-Therapie“ nennt. Diese Therapie greift an der Stelle, wo gestottert wird, und „repariert“ sozusagen den Sprechfluss.
In der Regel übt man dabei vor allem mit den kleinen Kindern (Vorschulkindern), aber auch mit den Eltern das sogenannte „lockere“ Stottern. Normalerweise stottern Kinder, die in die Therapie kommen, nicht mehr locker. Die Qualität ihres Stotterns ist häufig und angestrengt. Sobald das Kind das lockere Stottern wieder beherrscht, besteht das Ziel darin, das angestrengte Stottern durch das lockere Stottern zu ersetzen. Dann reduziert sich das Stottern oftmals. Die Chance auf eine Remission, eine Heilung, ist viel größer, wenn das Kind nicht mehr angestrengt stottert.
Welche Therapieformen gibt es noch?
Außerdem gibt es die Litcombe-Therapie – ein Konzept aus Australien, das verhaltenstherapeutisch arbeitet. Beim Palin-PCI-Ansatz (Palin Parent Child Interaction Therapy) für Kinder geht es primär um die Interaktion zwischen Eltern und Kindern, indem Eltern beispielsweise ihr Sprechtempo verlangsamen. Dies ist eine indirekte Form der Stottertherapie. Einige Logopäden mischen auch die Therapiekonzepte.
Schließlich gibt es noch den „Fluency Shaping“-Ansatz, bei dem sich sowohl Kinder als auch Erwachsene eine Sprechtechnik antrainieren, bei der jedes Wort mit einem weicheren Sprechansatz beginnt. Das gesamte Sprechen wird in dieser Sprechtechnik ausgeführt.
Die Therapien bestehen allgemein aus zwei Komponenten: der Reduktion von Angst und dem Erlernen einer Technik. Stottern ist wie ein Kontrollverlust, für den man hochautomatisierte Abläufe benötigt. Wer genau weiß, was er zu tun hat, wenn das Stottern auftritt, kann das Sprechen wieder verflüssigen. Ein Beispiel dafür ist der „Pull out“, bei dem man sich in dem Moment, in dem man stottert, durch eine verlangsamte, kontrollierte Artikulationsbewegung aus dem Stottern herauszieht.
Können auch Erwachsene noch erfolgreich eine Stottertherapie machen?
Ja. Das ist auch sinnvoll, wenn man bisher noch keine „richtige“ Stottertherapie gemacht hat. „Richtig“ bedeutet: bei Logopäden, die auf Stottern spezialisiert sind. Das ist sehr wichtig. Manche Menschen geben nach dem ersten Misserfolg sofort auf, doch genau dann ist es ratsam, dranzubleiben und sich einen anderen auf Stottern spezialisierten Logopäden zu suchen. Es gibt Einzel- und Gruppentherapien, die sowohl ambulant als auch stationär als Intensivtherapie durchgeführt werden, und ganz unterschiedliche Therapeuten und Therapierichtungen.
Es gibt auch Stotternde, die schon wirklich viele Therapien ausprobiert haben und immer noch mal mehr, mal weniger schwer stottern. Die Erfolge im Erwachsenenalter sind unterschiedlich. Grundsätzlich ist Stottertherapie auch im fortgeschrittenen Alter sinnvoll. Das Gute am Stottern ist: Es ist veränderbar. Erstrebenswerte Ziele sind eine Haltungs- und Einstellungsveränderung im Umgang mit dem Stottern sowie das Erlernen einer Sprechtechnik, so dass eine größere Sprechflüssigkeit erreicht wird.
Ich habe mit 19 Jahren von meiner Therapie sehr profitiert. Unterm Strich kann man auch im höheren Erwachsenenalter gute Erfolge erzielen, so dass man weniger Sprechängste hat, sich sprachlich mehr zutraut und auch mal eine Geburtstagsrede oder einen beruflichen Vortrag hält.
Gibt es auch digitale Angebote für Menschen mit Stotterproblemen?
Wir Logopäden haben in der Coronakrise mit Videotherapie angefangen. Außerdem weiß ich, dass die Kassler Stottertherapie ein Online-Angebot zum Fluency Shaping für Kinder und Erwachsene anbietet.
Vielen Dank für das Gespräch!