Bundeskanzlerin Angela Merkel reiste im Vorfeld ihrer Amtsübergabe zu einem Abschiedsbesuch in die Türkei. Der Besuch hatte zwar eher symbolischen Charakter, unterstrich jedoch die besondere Bedeutung der Türkei für Deutschland und die EU. Merkel, die Deutschland 16 Jahre lang regierte, stand in vielen Fragen im regen Austausch mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan. Nur so konnte vor allem in der Flüchtlingskrise 2015 mit Unterstützung der Türkei eine schwere Krise für die Europäische Union abgewendet werden.
In der Amtszeit von Kanzlerin Merkel bestimmten im türkisch-deutschen Verhältnis vor allem die Themen EU-Mitgliedschaft der Türkei, Verhinderung irregulärer Migration nach Europa, Visaliberalisierung für türkische Staatsbürger sowie Kampf gegen den Terror der PKK und FETÖ die Tagesordnung. Deutschlands mangelnde Unterstützung gegenüber der Türkei insbesondere im Kampf gegen terroristische Organisationen, welche die innere Sicherheit und die Grenzsicherheit des Landes bedrohen, belastete zwar von Zeit zu Zeit die bilateralen Beziehungen. Aber dank der Intensivierung des wirtschaftlichen Austauschs konnten sich pragmatische und rationale Erwägungen bei der Pflege der Beziehungen durchsetzen.
EU-Beitrittsprozess der Türkei unter Kanzlerin Merkel
Laut Dr. Enes Bayraklı, Dozent an der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul, die zur Intensivierung der bilateralen Beziehungen beitragen soll, muss die Ära Merkel in Bezug auf die Beziehungen zur Türkei zweigeteilt werden. Dabei führte er aus: „Als Angela Merkel an die Macht kam, war sie eine Führungsperson, die sich gegen die Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union ausgesprochen hatte. Ihre Partei trat für eine privilegierte Partnerschaft ein und schloss sich damit der Haltung der griechisch-zypriotischen Verwaltung von Südzypern, welche die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei hauptsächlich blockierte, und Ländern wie Frankreich und Österreich an. Die Türkei entwickelte aber mit ihrem win-win Ansatz dennoch einen ihr eigenen pragmatischen Ansatz im Umgang mit dem Land.“
Der deutsche Professor Uli Brückner stellt hierzu fest, Merkel sei bei ihrem Amtsantritt mit einer schwierigen Situation hinsichtlich der EU-Mitgliedschaft der Türkei konfrontiert worden: „Als sie vor 16 Jahren gewählt wurde, hatte sie einen schweren Stand, weil sie anders als ihr Vorgänger Gerhard Schröder gegen einen Beitritt der Türkei in die EU war.“
Der deutsche Journalist Klaus Jürgens hingegen argumentiert, Angela Merkel habe die EU-Mitgliedschaft der Türkei blockiert: „Angela Merkel hätte ihr Politikverständnis, das auf Solidarität basiert, auch ihren koalitionsinternen Quertreibern verständlich machen sollen. „Wir schaffen das“ war ihr berühmtester Ausspruch bezüglich der Flüchtlingskrise. Sie hätten ebenso erklären müssen: „EU-Beitritt der Türkei, wir schaffen das“. Wenn Berlin „Ja“ sagt, dann zieht Brüssel nach!“
Das Versprechen einer visafreien EU für die Türkei
Beim dritten Türkei-EU-Gipfel vom 17. bis 18. März 2016 kamen die Staats- und Regierungschefs zusammen, um zuvorderst über die „europäische Flüchtlingskrise“ zu diskutieren. Während der EU-Ratspräsidentschaft der Niederlande und unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel beschlossen EU und Türkei am 18. März 2016, ein Abkommen zur Beendigung der irregulären Migrationsströme nach Europa umzusetzen. Gemäß diesem Abkommen sollte die Türkei die irreguläre Migration in die EU verhindern, und die EU sollte der Türkei im Gegenzug Visaliberalisierungen gewähren. Dieses Versprechen der EU wurde jedoch nicht eingelöst. Der Journalist Klaus Jürgens stellt dazu fest, die EU hätte, wenn schon nicht für eine Vollmitgliedschaft, dann doch zumindest für eine Visaliberalisierung sorgen können. „Berlin hätte, selbst wenn man eine Vollmitgliedschaft in der EU als verfrüht angesehen hat (was nach über sechs Jahrzehnten auch merkwürdig erscheint), zumindest eine Visaliberalisierung zunächst bilateral, dann EU-weit durchsetzen können.“
Für Dr. Enes Bayraklı hat Präsident Erdoğan mit seiner führenden Rolle bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise den Machterhalt von Frau Merkel unterstützt. „Er hat einen großen Beitrag zur Stabilisierung der Politik und zum Verbleib von Merkel im Amt geleistet. Insofern denke ich, dass er damit auch den weiteren Aufstieg der extremen Rechten in Europa verhindert hat und auch, dass Europa zu einer noch autoritäreren Politik übergeht.“
Professor Brückner betont die Bedeutung des Flüchtlingsabkommens: „Vor allem hat sie nach 2015 ein Abkommen als Zwischenlösung in der Migrationsfrage mitausgehandelt, das künftig weiter ausgebaut werden soll.“ Für Professor Brückner brauchen Europa und die Türkei einander. „Für diese Haltung stand Merkel in den vergangenen 16 Jahren, auch wenn es ihr zuhause und in der EU mitunter schwerfiel, dies zu vertreten.“
Die Haltung Deutschlands im Kampf der Türkei gegen den Terror von PKK und FETÖ
Die Türkei kämpft seit nunmehr als vierzig Jahren aktiv gegen die PKK und seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 gegen FETÖ. Der Kampf der Türkei gegen diese Strukturen innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen war eines der wichtigen Themen zwischen Deutschland und der Türkei.
Der Journalist Klaus Jürgens vertritt die Ansicht, in der Ära Merkel habe Deutschland die Aktivitäten der PKK im Land nicht hinreichend bekämpft: „Obwohl die PKK von der EU als Terrororganisation eingestuft wird, können sich Anhänger dieser äußerst menschenverachtenden Gruppierung frei treffen und illegale Geldwäscherei u.a. von deutschem Boden aus betreiben. Wo waren Merkels klare Worte gegen die PKK, ihre Ableger in Syrien sowie der Sympathisantenpartei HDP?“
Laut Dr. Enes Bayraklı haben sich die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei mit den Auseinandersetzungen zum „Gezi-Park“ in eine andere Dimension weiterentwickelt. Dazu stellt er fest, dass das bis dahin bestehende asymmetrische Verhältnis Deutschlands zur Türkei seitens der Türkei beendet wurde, denn die Türkei wolle als gleichberechtigter Partner behandelt werden, insbesondere mit ihrer zunehmenden Aktivität in der Außenpolitik und ihrer gestärkten Wirtschaft. Weiter führt er dazu aus: „Wir haben gesehen, dass Deutschland dazu wohl nicht bereit war. Gerade in der Zeit nach der „Gezi-Park“-Auseinandersetzungen 2013 haben wir gesehen, dass sowohl marginale Kreise in Deutschland als auch die Mainstream-Politik eine Hetzkampagne auch unter Beteiligung der öffentlich-rechtlichen Medien gegen die Türkei und Erdoğan betrieben haben.“
Propagandaverbot in Deutschland für türkische Politiker
2012 wurde eine gesetzliche Regelung getroffen, damit türkische Staatsbürger, die in vielen europäischen Ländern leben, an den türkischen Wahlen teilnehmen können. So betrug die Zahl der im Ausland lebenden Wähler, die ihre Stimme bei den Präsidentschaftswahlen 2014 abgaben, 530.000.; 1,056 Mio. wählten bei den Wahlen vom 7. Juni 2015 und 1,3 Mio. bei den Wahlen vom 1. November 2015. 1,4 Mio. gaben beim Referendum vom 16. April 2017 ihre Stimme ab, und bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom 24. Juni 2018 gingen 1,525 Mio. Menschen an die Urnen.
Die meisten türkischen Wähler im Ausland leben in Deutschland. Wohl aus diesem Grund wurde der Wunsch türkischer Politiker, in Deutschland Wahlkampf zu betreiben, um auch die Stimmen von den Türken in Deutschland zu erhalten, von Deutschland abgeblockt. Dr. Enes Bayraklı erklärt hierzu, dass, obwohl die Aktivitäten der AK-Partei und des Präsidenten Erdoğan in Deutschland massiv behindert wurden, Erdoğan dennoch konstruktiv auf Deutschland zugegangen sei. „Wir haben gesehen, dass man sich in das Referendum der Türkei eingemischt und offen für ein „Nein“ geworben hat. Noch heute sehen wir die Nachrichten der deutschen öffentlich-rechtlichen Medien, die versuchen, mit Provokationen den Abschiedsbesuch von Merkel in einen negativen Kontext zu rücken. Trotz all dieser provokativen Schritte pflegte Präsident Erdoğan ein rationales und auf stetige Verbesserung bauendes Verhältnis zu Deutschland auf Grundlage gegenseitiger Interessen und Wertschätzung. Dies unterstreicht, dass die Türkei trotz aller gegen sie gerichteter Schritte die Beziehungen aufrechterhalten hat, und zeigt uns die außenpolitische Vision des Präsidenten. Insofern halte ich die Rolle des Präsidenten in den Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei für sehr wichtig.“
Während aktuell in Deutschland die Bemühungen um die Bildung einer neuen Koalitionsregierung weitergehen, setzt Merkel ihre Abschiedstouren fort. Es wird für beide Parteien und Europa von Vorteil sein, wenn auch die nächste deutsche Regierung eine konstruktive Politik in den deutsch-türkischen Beziehungen entwickelt, die den Problemen der Merkel-Zeit Rechnung trägt.