Experte: Chipproduktion ist komplex und „extrem arbeitsteilig“
Chips stecken in fast allen Industrieprodukten und allen technischen Geräten. Die Halbleiter-Produktion ist global, komplex und arbeitsteilig. Warum Chips derzeit so knapp sind, erklärt Chipexperte Sven Baumann im Gespräch mit TRT Deutsch.
Experte: Chipproduktion ist komplex und „extrem arbeitsteilig“ (Infineon)

von Feride Tavus


Fast nichts läuft in unserem vernetzten Alltag mehr ohne Chips. Die weniger als zehn Nanometer großen Halbleiter bilden das Herzstück aller elektronischen Systeme, die wir Tag für Tag nutzen.

Derzeit sind sie weltweit Mangelware. Die Wirtschaftswelt dreht sich langsamer, weil es in verschiedenen Branchen unterschiedliche Formen von Engpässen gibt. Eine einfache und schnelle Lösung ist nicht in Sicht.

Im Gespräch mit TRT Deutsch erklärt Dr. Sven Baumann, Experte des Zentralverbands Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V. (ZVEI) für Mikroelektronik, was es mit der Chipkrise auf sich hat.

Was sind Chips und wo kommen sie zum Einsatz?

Halbleiter oder auch Chips kommen in nahezu allen digitalen und elektrotechnischen Anwendungen zum Einsatz – im Automobilbereich, der Industrie- und Konsumelektronik, im Bereich der erneuerbaren Energien, der Datentechnik und Kommunikation. Sie sind unverzichtbar für die Elektrifizierung und Digitalisierung. Es handelt sich dabei um winzige mikroelektronische Bauteile mit unterschiedlichen Funktionen, die, abhängig vom Verwendungszweck, in verschiedenen Strukturgrößen gefertigt werden. Zum Vergleich: Ein menschliches Haar hat einen 10.000-fach größeren Durchmesser als die aktuell kleinstmögliche Strukturgröße.

Womit lässt sich der Anstieg der Nachfrage erklären?

Ein Grund ist, dass die Digitalisierung während der Pandemie einen deutlichen Schub erfahren hat. Die Nachfrage nach elektronischen Büro- und Konsumgütern wie Tablets, TVs, Webcams und Haushaltsgeräten ist in dieser Zeit stark gewaschen – teils um bis zu 50 Prozent. Aber auch langfristige Trends wie das vernetzte Fahren und die notwendige Digitalisierung der Energiewende werden die Nachfrage hochhalten. Hinzu kamen unter anderem ein Brand bei einem japanischen Chiphersteller, ein Schneesturm in Texas und die Blockade im Suez-Kanal, die große Produktionen zum Stocken gebracht haben. Die Chipproduktion ist ein global hochgradig komplexes Wertschöpfungsnetzwerk und extrem arbeitsteilig. Als Faustregel gilt, dass ein einzelner Halbleiter bis zu seinem Einsatz etwa zweieinhalbmal um die Erde reist.

Welche Folgen hat der Chipmangel für die Wirtschaft und Verbraucher?

Lieferschwierigkeiten gibt es derzeit tatsächlich noch immer nahezu in allen Branchen, da die Produktionskapazitäten beeinträchtigt und die Lieferketten weiterhin fragil sind. Insgesamt ist die Situation uneinheitlich, da die Produktgruppen unterschiedlich betroffen sind. Elektrische Konsumgüter wie Hausgeräte beispielsweise sind von den Engpässen bei Halbleitern und den knappen Transportkapazitäten von Asien und Europa stark betroffen.

Dr. Sven Baumann, Experte des Zentralverbands Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V. (ZVEI) für Mikroelektronik (Quelle: ZVEI)

Nicht jeder Kunde oder jede Kundin kann deshalb derzeit damit rechnen, das Wunschgerät wie gewohnt gleich mitnehmen zu können oder innerhalb der gewohnt kurzen Frist geliefert zu bekommen. Allerdings gibt es nach wie vor ein breites Angebot an Hausgeräten, Alternativen sind also verfügbar.

Ohne Mikrochips können die meisten Produkte unseres Alltags nicht funktionieren. Doch die Hersteller sitzen im Ausland. Wie gefährlich kann diese Abhängigkeit werden?

In Europa existiert eine global sehr starke Halbleiterindustrie für bestimmte Halbleitersegmente und -produkte. Sie sind aktiv im Chipdesign, in der Fertigung sowie im Testen.

Dann zu der von Ihnen erwähnten Abhängigkeit: Es gilt, einseitige Abhängigkeiten zu verhindern. Es geht allerdings nicht darum, Autarkie zu erreichen, denn das wäre grundsätzlich falsch. Das global aufgestellte Wertschöpfungsnetzwerk der Halbleiterbranche ist sinnvoll und muss auch in Zukunft weiter Bestand haben.

Wichtig ist, dass die europäischen Stärken in der Halbleiterbranche ausgebaut werden sowie die derzeit in Europa schwächer vorliegenden Halbleitersegmente sukzessive erweitert und gestärkt werden.

Die Chipkrise hat die Automobilbranche am stärksten getroffen. Haben die Hersteller die Entwicklung falsch eingeschätzt?

Die Engpässe in der Automobilbranche hängen wesentlich damit zusammen, dass diese zum Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 ihre Bestellungen deutlich zurückfuhren, woraufhin die Chiphersteller ihre Produktion etwa auf andere Segmente, wie z. B. Kommunikation, Consumer oder Medizintechnik verlagert haben.

Experte: Chipproduktion ist komplex und „extrem arbeitsteilig“ (Reuters)

Die EU-Kommission hat eine Chipoffensive gestartet und will die europäische Chipindustrie mit 43 Milliarden Euro fördern. Damit soll die Abhängigkeit aus dem Ausland verringert werden. Ist das der richte Lösungsansatz für die gegenwärtige Krise?

Mit dem European Chips Act legt die Europäische Kommission ein zukunftsweisendes, umfassendes Paket für die Halbleiterbranche vor. Er ist ein Weckruf, um die Mikroelektronikbranche in Europa endlich nachhaltig zu stärken und einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden. Es ist also richtig, jetzt das gesamte Halbleiter-Ökosystem in Europa nachhaltig zu fördern.

Dennoch ist der gewählte Fokus auf kleinere Chips zu eng, Europa muss seine Kompetenz in allen Strukturgrößen stärken. Halbleiter größerer Strukturklassen sind die Basis für Leistungselektronik und Sensorik, ohne die weder die Elektrifizierung für die Energiewende noch die digitale Transformation gelingen werden.

Gibt es kurzfristig andere Wege aus der Chipkrise?

Nein, die gibt es nicht. Zum einen wird die Nachfrage in Deutschland und Europa in allen Anwendungsbereichen weiter steigen. Der ZVEI erwartet bis 2030 eine Verdopplung des Halbleitermarkts. Neue Fabriken auch in Europa zu bauen, ist also der richtige Weg. Jedoch dauert der Neubau einer solchen Fabrik in Summe bis zu fünf Jahren und bedarf einer Investitionssumme von etwa bis zu zwölf Milliarden Euro.

Zum anderen lässt sich eine Halbleiterproduktionsstätte bei kurzfristig veränderten Bedarfen nicht über Nacht umstellen, denn sie sind hochspezialisiert und kapitalintensiv. Das hat zur Folge, dass eine sogenannte Fab nur bei sehr hoher Auslastung ökonomisch arbeiten kann – dabei sind schon Auslastungen unter 85 Prozent nicht mehr kostendeckend. Um hier zukünftig eine Verbesserung zu erreichen und solche Versorgungsengpässe besser abfedern zu können, muss die Abnehmerindustrie in enger Zusammenarbeit mit den Halbleiterherstellern bessere Prognosen erstellen, um neue Produktionskapazitäten zum richtigen Zeitpunkt zu planen und aufzubauen.

Insgesamt wird der Mangel an Halbleitern die Industrie voraussichtlich also noch länger beschäftigen. Die Hersteller tun weiter ihr Möglichstes, um zügig Abhilfe zu schaffen.


Vielen Dank für das Gespräch!

TRT Deutsch