von Ali Özkök
Die in Wuppertal lehrende Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt ist seit 2019 Mitglied der Unabhängigen Kommission Antiziganismus der Bundesregierung, angesiedelt im Bundesinnenministerium. In dieser Funktion hat sie auch am jüngst vorgestellten Abschlussbericht über romafeindliche Einstellungen und Strukturen in Deutschland mitgewirkt.
Im Gespräch mit TRT Deutsch erklärt sie unter anderem, warum die Anerkennung der Roma als autochthone nationale Minderheit nach ihrer Überzeugung wenig daran geändert hat, dass der Volksgruppe immer noch die Zugehörigkeit zu Deutschland bestritten wird.
Außerdem gibt sie Auskunft über Diskriminierung und Ausgrenzung von Roma im Bildungswesen und darüber, wie stark die Kontinuität der rassistischen Zuschreibungen gegenüber Sinti und Roma aus der Zeit des Nationalsozialismus auch nach 1945 noch fortgesetzt worden ist.
Mittlerweile gehören die Roma zu den vier anerkannten autochthonen nationalen Minderheiten bzw. Volksgruppen in Deutschland. Was hat sich dadurch für die Volksgruppe an greifbaren Vorteilen ergeben?
Von Vorteilen würde ich hier gar nicht sprechen, denn der Alltagsrassismus ist ja dadurch nicht verschwunden. Es ist im Bewusstsein der Mehrheitsbevölkerung überhaupt nicht so präsent, dass auch diese Gruppe eine nationale Minderheit ist, was ja zeigen müsste, dass sie eben dazugehört zur deutschen Gesellschaft. Darauf zielt ja diese Anerkennung als nationale Minderheit. Und genau diese Zugehörigkeit wird gegenüber den Sintize und Romnja immer wieder bestritten, abgestritten und verwehrt.
Und ich glaube, dieses Konstrukt der nationalen Minderheiten hilft da zunächst nicht, das zu verändern, denn es müsste sich da noch viel mehr in der Dominanzgesellschaft ändern.
Dennoch ist es bedeutsam, denn die Anerkennung bedeutet einen gewissen Status und der ermöglicht, diese spezifischen Diskriminierungsformen auch in spezifischen Programmen zu bekämpfen.
Dafür ist diese Form der Anerkennung als autochthone Minderheit schon sehr nützlich. Ich will hier nicht sagen, dass das nichts bedeutet, aber die Bewusstseinsveränderung in der Dominanzgesellschaft, die ist damit noch überhaupt nicht vollzogen und angestoßen.
Das Misstrauen gegenüber staatlichen Stellen ist bei Sinti und Roma häufig hoch, auch wenn es um Bildungsinstitutionen und andere Einrichtungen geht, die ihnen eigentlich das Leben erleichtern sollten. Nach vielen Jahrhunderten hat man Angst, dass die eigenen Kinder assimiliert oder entfremdet werden, weil es so oft geschehen ist. Viele fürchten, dass der Staat immer noch ihr Feind ist…
Die Aufmerksamkeit sollte hier nicht auf einem angeblichen Misstrauen der Minderheit liegen, sondern umgekehrt auf der Verletzung der Vertrauensfunktion der Bildungsinstitutionen selbst. Lehrkräfte und Schulleitungen bringen Misstrauen gegen Schüler_innen und ihre Familien zum Ausdruck, wenn sie ihnen weniger Leistung und keine Bildungsambitionen zutrauen. Die erziehungswissenschaftliche Forschung zeigt jedoch, dass Bildung vielen Familien der Roma und Sinti sehr wichtig ist und viel dafür getan wird, dass die Kinder einen Bildungsaufstieg schaffen. Doch in den Bildungsinstitutionen halten sich die Defizitvorstellungen sehr hartnäckig. Aufstieg durch Bildung wird nur durch das Überwinden von starken Barrieren erreicht. Für den eigenen Bildungserfolg zahlen Betroffene von Antiziganismus einen viel höheren Preis als Angehörige der Dominanzgesellschaft.
Hinzu kommt die immer noch weitgehend fehlende Thematisierung des Genozids an den Sinti und Roma in Europa. Das ist auch ein wirklich wichtiger Faktor der Diskriminierung, der in unserem Bericht eine sehr große Rolle spielt. Die Ausblendung dieser Erfahrung in Lehrplänen und im alltäglichen Unterrichtsgeschehen kann als sehr verletzend erlebt werden. Dadurch wird eine über mehrere Generationen reichende Traumatisierung unsichtbar gemacht. Die Nichtanerkennung dieses Geschehens und der Folgen bedeutet für Schüler_innen und ihre Familien eine Missachtung ihrer Erfahrungen. Wir zeigen in unserem Bericht, dass sich hierzu immerhin einiges im Bereich der Schulbücher bewegt hat. Doch für die Vermittlung dieser Geschichte und ihrer Nachwirkungen benötigen Lehrkräfte ein ensprechendes Bewusstsein, weshalb wir für die Verankerung dieser Inhalte in den Lehramtsstudiengängen und in der Fortbildung plädieren.
Insgesamt kann man sagen, dass Erfahrungen im Bildungssystem biografisch für alle von großer Bedeutung sind. Ich glaube, das können alle von sich auch bestätigen. Das hat einen großen Einfluss auf Lebenswege, auf Zukunftsperspektiven. Und wenn man in diesem Feld systematischen strukturellen Rassismus, systematische Ausgrenzung und Zurücksetzung erlebt, hat das sehr starke Folgen für die Biografien der Betroffenen. Das heißt, die Schulen werden von vielen Angehörigen der Sinti und Roma nicht als sichere Orte erlebt, was wirklich ein dramatischer Befund ist.
Hier ist ein grundlegender Perspektivenwechsel erforderlich, der nur erreicht werden kann, wenn in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften rassismuskritisches Wissen und Reflexivität für die Spezifik des antiziganistischen Rassismus und seiner Geschichte vermittelt werden. Zu unseren Forderungen in diesem Bereich gehören deshalb die Verankerung antiziganismuskritischer Inhalte in den Lehramtsstudiengängen aller Schulformen. Zudem müssen Barrieren abgebaut werden, um Rom_nja und Sinti_ze den Zugang zu pädagogischen Studiengängen zu ermöglichen und für eine größere Diversität bei Lehrkräften und in anderen pädagogischen Berufen zu sorgen. Erreicht werden muss eine verstärkte Repräsentation und Partizipation von Rom_nja und Sinti_ze in der Bildungspolitik und in Schulleitungspositionen.
Zu dem von uns festgestellten institutionellen Rassismus gehört neben dem Bildungssystem und den kommunalen Behörden auch die Ethnisierung von Delikten durch die Polizei. Wir zeigen, dass es gegenüber Rom_nja zu Racial Profiling kommt, wenn bestimmte Roma-Communitys und Familien in eine kriminologische Kategorie eingeordnet werden. Das ist sicher ein sehr heikles Kapitel in unserem Bericht. Nicht zu vergessen ist die historische Rolle der Polizei bei der Verfolgung, Stigmatisierung und Internierung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus und danach die Fortsetzung auch dieser Kriminalisierung durch Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik Deutschland. Vor diesem Hintergrund zeugt eine weitere Kriminalisierung heute auch von mangelndem Geschichtsbewusstsein bei der Polizei.
Inwiefern handelt es sich hier auch um eine gewisse Kontinuität der Verfolgung aus der NS-Zeit?
Da gibt es eine Kontinuität. Das sieht man auch daran, dass es so etwas wie die sogenannten Landfahrer-Zentralen auch nach 1945 noch gegeben hat, die ja nur dazu da waren, diese bestimmte Gruppe zu stigmatisieren, sie unter Verdacht zu stellen. Das wurde direkt aus der Zeit des Nationalsozialismus übernommen.
Deshalb spricht die historische Forschung von einer zweiten Verfolgung, denn mit der zweiten Verfolgung hängt auch zusammen, dass die historische Verfolgung im NS über Jahrzehnte nicht anerkannt worden ist, nicht als Genozid anerkannt worden ist und es so dargestellt wurde, als seien die Sinti und Roma nicht auf Grund rassistischer Ideologie verfolgt worden, sondern aufgrund ihrer Eigenschaften, sozusagen als Kriminelle. Und das zeigt ja auch, was hier für eine Kontinuität an der Tagesordnung war.
Die Kontinuität reicht auch in die Wissenschaft hinein. Das, was im Nationalsozialismus als „Zigeunerforschung“ praktiziert wurde, das war nach 1945 erschreckenderweise nicht einfach vorbei, sondern da setzte sich auch etwas fort. Und diejenigen, die an dieser rassistischen Forschung beteiligt gewesen sind, sind gar nicht dafür verurteilt worden.
Obwohl der Genozid dann endlich in den 1980er Jahren anerkannt wurde, ist eine intensive und selbstkritische Aufarbeitung in der deutschen Gesellschaft nicht umgesetzt worden. Da gibt es vieles nachzuholen. Deshalb auch diese Formulierung im Titel des Berichts. Wir sprechen von „Perspektivenwechsel, nachholender Gerechtigkeit und Partizipation“.
Sehen Sie da auch Parallelen, beispielsweise zur türkeistämmigen Minderheit?
Ja, es gibt viele Parallelen, auch zu den Erfahrungen anderer Gruppen in Deutschland, anderer Minderheiten oder rassifizierter Gruppen, zu denen auch die türkischen Arbeitsmigrant_innen und ihre Nachkommen zählen, die heute vielfach Deutsche sind, aber immer noch nicht als Zugehörige anerkannt werden.
Zwar gibt es etwas Spezifisches aufgrund der Geschichte des Antiziganismus, weshalb wir auch für spezifische Programme und Beauftragungen plädieren. Aber zugleich gibt es auch viele Verbindungen zu anderen Rassismen in unserer Gesellschaft. Botschaften der Nichtzugehörigkeit und institutionelle Ausgrenzungen erleben viele hierzulande, auch wenn sie schon in dritter, vierter Generation in Deutschland leben. Das bezeichne ich als Formen des Fremdmachens, die häufig am Aussehen, an der Sprache, am Namen festgemacht werden. Hier sehen wir Verbindungen zu anderen Formen des Rassismus.
Der ganze Diskurs um Migration ist natürlich hier auch sehr verwoben. Obwohl es bei den Sinti und Roma auch um eine autochthone Minderheit geht, ist ja ein Teil der Roma, vor allem der osteuropäischen Roma, auch migrantisch. Und die trifft auch das, was viele andere Migranten hier auch trifft, die hier als irgendwie kulturell fremd wahrgenommen werden – und deren Zugehörigkeit bestritten wird.
Die Frage nach der Zugehörigkeit und der Anerkennung von Zugehörigkeit ist hier etwas ganz Entscheidendes. Und dazu gehört dann eben auch, Zugänge zu höherer Bildung zu erhalten, auch zum Aufstieg, zur Besetzung von wichtigen Positionen. Das meinen wir im Bericht mit Partizipation, d. h. eben auch, an Schaltstellen der Gesellschaft mitzuentscheiden und mitzuwirken.
Vielen Dank für das Gespräch!