Der 30. Oktober markiert den 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens für Arbeitskräfte zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. Es handelte sich um die vierte von insgesamt neun Vereinbarungen dieser Art, die vom westdeutschen Staat zwischen 1955 und 1968 abgeschlossen wurden – bis die Ölkrise 1973 für eine Kehrtwende in Form des Anwerbestopps sorgte.
Anlässlich dieses Jahrestages legte der Historiker und Politikwissenschaftler Stefan Zeppenfeld seine Promotionsarbeit am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) in Buchform vor. Das Werk trägt den Titel „Vom Gast zum Gastwirt? Türkische Arbeitswelten in West-Berlin“ und ist im Wallstein Verlag erschienen.
Blick auf alle Segmente der Erwerbstätigkeit
Zeppenfeld beleuchtet in seiner umfangreichen Arbeit die Geschichte hinter den Anwerbeabkommen und zeichnet davon ausgehend den Weg von der sogenannten Gastarbeit in Industriebetrieben hin zur Beschäftigung türkischer Einwanderer in anderen Branchen, im öffentlichen Dienst oder in der gewerblichen Selbstständigkeit nach. Auch Phänomenen wie der Schattenwirtschaft und Formen der Kriminalität, die in den Milieus entstanden, geht der Historiker auf den Grund.
Dazu kommen eingehendere Analysen über die häufigsten Einsatzfelder männlicher und weiblicher sogenannter Gastarbeiter, über Familienzusammenführung zwischen Bürokratie und Unternehmerinteressen sowie Bildungskarrieren innerhalb der Einwanderercommunity.
Unter anderem räumt Zeppenfeld mit gefühlten Wahrheiten auf, die in den Abkommen selbst erst den Beginn türkischer Arbeitsmigration nach Deutschland sehen und vor allem den Kalten Krieg als wesentlichen Grund für den Schritt betrachten. Zwar gab es in der BRD in der Ära des „Wirtschaftswunders“ tatsächlich einen Arbeitskräftemangel, der durch den Mauerbau gerade in West-Berlin eskalierte – und in der Türkei drohte eine Wirtschaftskrise die inneren Spannungen zu verschärfen.
Anwerbeabkommen als Antwort auf private „Übersetzungsbüros“
Das Anwerbeabkommen war jedoch vor allem die staatliche Antwort auf private „Übersetzungsbüros“, die als private Vermittler individuelle Aufbrüche ermöglichten und auch von den Arbeitgebern gut angenommen wurden. Die Einrichtungen hatten bereits in den Jahren vor dem Abkommen türkischen Arbeitssuchenden den Weg nach Deutschland ermöglicht.
Der hohe Personalbedarf in Deutschland und das starke Interesse türkischer Arbeitssuchender hatten unter anderem zur Folge, dass die auflagenstarke Zeitung „Hürriyet“ bereits im Frühjahr 1961 die Kontaktdaten des Siemens-Personalchefs veröffentlichte.
Die deutschen Behörden wollten in dieser Situation die Kontrolle über die Entwicklung bewahren und mit den Abkommen rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, um die individuellen Bemühungen zu kanalisieren. Dies war nicht zuletzt mit Blick auf West-Berlin vonnöten, da man Verwicklungen befürchtete, sollten türkische Arbeitswillige etwa auf eigene Faust den Weg durch die DDR suchen.
Zeppenfelds Analyse schildert die Entwicklung der unterschiedlichen Sektoren der sogenannten Gastarbeit, aber auch die Faktoren, die dazu führten, dass sich die ursprüngliche Vorstellung einer befristeten Tätigkeit mit anschließender Rückkehr zunehmend als Ausnahmefall erwies.
Türkische Community trotz Krisen und Rassismus
Der Historiker spart auch unangenehme Themen nicht aus, etwa die negativen Assoziationen der „Gastarbeit“ mit der Zwangsarbeit der Kriegsjahre, oder rassistische Tendenzen, die sich erstmals mit der Konjunkturdelle von 1966/67 zeigten – und später insbesondere in den 1980ern und 2010ern mit den Wahlerfolgen der Republikaner und den Buchveröffentlichungen Thilo Sarrazins in heftiger Weise wiederaufflammten.
In Summe waren Türken auch in wirtschaftlich angespannten Zeiten, so der Befund Zeppenfelds, eher als Italiener oder Spanier bereit, besonders unbeliebte Arbeiten auszuführen, als in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Auch Krisen, Bürokratie und Fremdenhass konnten am Ende die dauerhafte Etablierung einer mehrere Millionen Menschen umfassenden Einwanderercommunity nicht verhindern.
Stefan Zeppenfeld: „Vom Gast zum Gastwirt? Türkische Arbeitswelten in West-Berlin“;
ISBN 978-3-8353-5022-9, D: € 39,00/A: € 40,10
Nach 60 Jahren: Historiker legt Geschichte türkischer Arbeitsmigration vor
25 Okt. 2021
Anlässlich des 60. Jubiläums des Anwerbeabkommens zwischen der BRD und der Türkei legte der Historiker Stefan Zeppenfeld eine umfassende Arbeit zum Thema „Türkische Arbeitswelten“ vor. Der Schwerpunkt liegt dabei auf West-Berlin.
TRT Deutsch
Ähnliche Nachrichten
Inflation-Umfrage: Immer mehr Deutsche fühlen sich in der Existenz bedroht
Während ein geringer Teil der Bevölkerung die Auswirkungen der Inflation nicht spürt, bangen viele andere um ihre Existenz. Das geht aus einer aktuellen Umfrage hervor. Jeder Dritte muss demnach auf sein Erspartes zurückgreifen – so lange es geht.