Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat russische Streitkräfte beschuldigt, eine Gruppe von Flüchtlingen aus der belagerten Hafenstadt Mariupol auf einer zuvor vereinbarten Fluchtroute „einfach gefangen genommen“ zu haben. In seiner abendlichen Videobotschaft verwies der Staatschef am Dienstag erneut auf das Leid der seinen Angaben zufolge noch 100.000 Menschen in der Stadt, die „ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Medikamente, unter ständigem Beschuss“ ausharren müssten.
Humanitäre Konvois „von den Besatzern gekapert“
Die Großstadt hatte vor Kriegsbeginn noch 450.000 Einwohner. Sie ist für beide Seiten strategisch wichtig, da sie der letzte große Hafen unter ukrainischer Kontrolle am Asowschen Meer ist und eine direkte Landverbindung zwischen der von Russland annektierten Krim-Halbinsel sowie den von pro-russischen Separatisten kontrollierten Gebieten in der Ostukraine verhindert. Der ukrainischen Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk zufolge sollten am Dienstag drei Fluchtrouten von Mariupol in das 250 Kilometer nordwestlich gelegene Saporischschja geöffnet werden. Dem ukrainischen Präsidenten zufolge konnten darüber gut 7000 Menschen am Dienstag in Sicherheit gebracht werden. Selenskij sagte jedoch, dass einer der humanitären Konvois bei Manhusch „von den Besatzern gekapert“ worden. Mitarbeier des Katastrophenschutzes und Fahrer würden „gefangen“ gehalten. „Wir tun alles, um sie zu befreien und die Blockade des humanitären Konvois aufzuheben“, sagte Selenskij. Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa sagte der Nachrichtenagentur AFP am Dienstag: „Bei dem, was ich jetzt in Mariupol sehe, handelt es sich nicht um Krieg, sondern um Völkermord.“ „Kriegsschauplätze haben einige Regeln, einige Prinzipien. Was wir in Mariupol sehen, [hat] überhaupt keine Regeln“. Der griechische Außenminister Nikos Dendias bot an, in Abstimmung mit dem Roten Kreuz persönlich humanitäre Hilfe dorthin zu bringen, wenn die Kriegsparteien dies zuließen. Selenskij dankte ihm und sagte, er erwarte „die Umsetzung seines Plans in den kommenden Tagen“.
Selenskyj schlägt Papst Franziskus als Vermittler vor
Selenskyj bekräftigte am Abend seine Forderung nach direkten Gesprächen mit seinem russischen Kontrahenten Wladimir Putin. Dabei werde er versuchen, „alles anzusprechen, was Russland ärgert und missfällt“. „Wir arbeiten weiterhin auf verschiedenen Ebenen und drängen Russland zum Frieden“, sagte der Staatschef. „Es ist sehr schwierig. Manchmal skandalös. Aber Schritt für Schritt kommen wir voran.“
Wie er zuvor auf Twitter mitgeteilt hatte, hat Selenskyj Papst Franziskus als Vermittler vorgeschlagen. In der Videobotschaft fügte er hinzu, er habe das Oberhaupt der katholischen Kirche „gebeten, in diesem sehr wichtigen Moment in unser Land zu kommen“. Er „glaube, dass wir diesen wichtigen Besuch organisieren können, der jedem von uns, jedem Ukrainer, eine bedeutende Unterstützung bietet“.
Unterdessen ist der russische Vormarsch weitgehend zum Stillstand gekommen. Der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, sagte, den russischen Truppen gingen die Vorräte aus. Einem hochrangigen Beamten seines Ministeriums zufolge stünden den Russen nur noch „etwas weniger als 90 Prozent ihrer Kampfkraft“ zur Verfügung. Das Militär habe Kommunikationsprobleme und müsse auf Handys zurückgreifen. Der ukrainischen Armeeführung zufolge verfügen die russischen Truppen nur noch über Munition, Lebensmittel und Treibstoff für drei Tage.
Das ukrainische Außenministerium erklärte zudem, dass sich die Lage in der von Russland besetzten Großstadt Cherson im Süden rapide verschlechtert. Es beschuldigte Moskau, einen Hilfskorridor für die Evakuierung von Zivilisten und den Transport von Lebensmitteln zu verweigern.