Nach dem Fund eines Massengrabs mit den Überresten von 215 Kinderleichen auf dem Gelände eines früheren Internats für Indigene in Kanada haben UN-Menschenrechtsexperten von der Regierung des Landes und dem Vatikan umfassende Aufklärung verlangt. Kanadas Premierminister Justin Trudeau rief seinerseits die Katholische Kirche auf, für ihre Rolle als Betreiberin dieser Schulen Verantwortung zu übernehmen. Rosanne Casimir, Oberhaupt der Tk'emlups te Secwepemc First Nation in der westlichen Provinz British Columbia, forderte eine öffentliche Entschuldigung des Vatikans. Die Einweisungen veranlasst hatten jedoch staatliche Behörden.
Papst Franziskus: „Ideologisches Kolonisationsmodell überwinden“
Am Sonntagmittag gedachte Papst Franziskus der toten Kinder. „Ich habe mit Schrecken die Nachrichten aus Kanada empfangen“, sagte das Oberhaupt der Katholischen Kirche vor vielen Gläubigen auf dem Petersplatz in Rom. Es werde weiter daran gearbeitet, um Licht in die Sache zu bringen. Er rief dazu auf, sich von dem ideologischen Kolonisationsmodell zu entfernen und die Rechte aller Söhne und Töchter Kanadas anzuerkennen.
Aus Respekt vor der Privatsphäre der überlebenden Opfer und ihrer Angehörigen sei die Nutzung des Luftraums über der Schule in der Nähe der Stadt Kamloops eingeschränkt worden, teilte der zuständige Minister Marc Miller am Samstag via Kurznachrichtendienst Twitter mit. Premierminister Trudeau erklärte, der 30. September sei zum nationalen Tag der Wahrheit und Erinnerung deklariert worden.
Das Massengrab in der Nähe der Stadt Kamloops in British Columbia war Ende Mai entdeckt worden. Es fand sich auf dem Gelände der Kamloops Residential School, einer Art Umerziehungslager für Kinder kanadischer Ureinwohner, das zwischen 1890 und 1978 in Betrieb gewesen war. Wann und woran die Kinder starben, ist noch nicht bekannt. Einige von ihnen wurden nur drei Jahre alt.
Ermittlungen nötig
Die UN-Menschenrechtsexperten forderten in einer Stellungnahme Kanadas Regierung und den Vatikan auf, umfassende Untersuchungen zu den Todesumständen der Kinder und zu etwaigen Verantwortlichen zu veranlassen. Die Experten sprachen von „abscheulichen Verbrechen“ und Menschenrechtsverstößen in den Internaten. Es wäre „schlicht unvorstellbar“, wenn der kanadische Staat und der Vatikan die Verantwortlichen ungeschoren davonkommen ließen und sich nicht um eine umfassende Entschädigung kümmerten, hieß es. Ermittlungen seien an allen derartigen Einrichtungen in Kanada nötig, um Folter- und Missbrauchsvorwürfen nachzugehen und womöglich noch lebende Übeltäter zur Rechenschaft zu ziehen.
Auf der ersten Pressekonferenz seit dem Fund sagte Casimir am Freitag laut Medienberichten, ihre indigene Gemeinschaft habe sich kürzlich mit dem örtlichen katholischen Bischof getroffen - aber das reiche nicht. „Wir wollen eine Entschuldigung - eine öffentliche Entschuldigung, nicht nur für uns, sondern für den Rest der Welt“, zitierte sie die kanadische Zeitung „The Globe and Mail“. „Wir machen die Katholische Kirche dafür verantwortlich.“
Die Einrichtung bei Kamloops war nach Angaben von Indigenen die größte ihrer Art in Kanada. Vom 17. Jahrhundert bis in die 1990er wurden solche sogenannten Residential Schools von der Regierung verwaltet und finanziert. Betreiber waren größtenteils Kirchen und religiöse Organisationen.
Es handelt sich um eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte Kanadas: Über Jahrzehnte riss die Regierung tausende Söhne und Töchter aus ihren Familien und steckte sie in Internate. Dort sollten sie ihre Kultur vergessen - Feste, Lieder, Sprache, Religion - und die Traditionen der europäischen Einwanderer erlernen. Gewalt und sexueller Missbrauch waren praktisch an der Tagesordnung.
„Tief enttäuscht“ von Kirche
Der Missionsorden, der die Schule betrieb, habe seine internen Aufzeichnungen geheimgehalten, sagte Casimir weiter. Die sterblichen Überreste scheinen von Kindern zu stammen, deren Tod gar nicht erst dokumentiert worden war und die keine gekennzeichneten Gräber bekommen hatten.
Auch Trudeau machte der Katholischen Kirche schwere Vorwürfe. Sie sei ihrer Verantwortung nie gerecht geworden und stemme sich noch immer gegen eine rückhaltlose Aufklärung. Er sei „tief enttäuscht“ vom Vorgehen der Kirche, die nun endlich Dokumente freigeben und die Opfer der Verbrechen entschädigen müsse. Inwieweit der Staat selbst dazu bereit ist, der die entsprechende Politik veranlasst hatte, bleibt offen.