Seit mehr als einem halben Jahr laufen die Ermittlungen im Mordfall Lübcke. Nachdem Stephan E. sein Geständnis widerrufen hat, legt sein Anwalt eine neue Version zum Ablauf der Tat vor.
Anfang Juni 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke mit einem Kopfschuss getötet. Nach den bisherigen Ermittlungen des Generalbundesanwalts war die Tat rechtsextrem motiviert.
Als dringend verdächtig gilt Stephan E., der ein erstes Geständnis widerrufen hat. Nun hat sein Anwalt Frank Hannig einen neuen Ablauf der Tatnacht geschildert. Er war nach Darstellung seines Anwalts in der Tatnacht nicht alleine am Haus von Lübcke im nordhessischen Wolfhagen, sondern zusammen mit seinem Bekannten Markus H.
Ihm will er auch die Waffe überreicht haben, aus der dann der tödliche Schuss fiel - angeblich versehentlich und nach einem Streitgespräch mit dem CDU-Politiker, dem man lediglich eine „Abreibung“ habe verpassen wollen. Es sei aber nicht beabsichtigt gewesen, Lübcke zu töten. Hannig äußerte sich nicht dazu, warum die beiden eine geladene Waffe dabei hatten.
Die neuen Aussagen stehen im Widerspruch zum ersten Geständnis von Stephan E., das dieser nach seiner Festnahme zwei Wochen nach der Tat abgelegt hatte. E. erklärte zunächst, er habe seine Familie durch kriminelle Ausländer bedroht gesehen, daneben hätten ihn „islamistische Anschläge“ stark aufgewühlt. Lübcke habe wegen seiner liberalen Haltung zur Flüchtlingspolitik Mitschuld daran.
Die damaligen Angaben von E. waren detailliert - bei Durchsuchungen im Anschluss entdeckten die Ermittler unter anderem die Tatwaffe auf einem Firmengelände. Ein Zeuge will in der Tatnacht einen Schuss gehört und 20 Minuten später zwei Autos bemerkt haben, die in „aggressiver Manier“ durch Lübckes Wohnort fuhren. Was genau die Ermittlungen dazu ergeben haben, ist nicht bekannt.
Neue Version des Tathergangs
Der Freund von Stephan E. gilt als derjenige, der den Kauf der späteren Tatwaffe organisiert hat. Bei Markus H. selbst wurden bei Durchsuchungen zahlreiche Waffen gefunden. Er wird der rechtsextremen Szene in Kassel zugeordnet. H. wurde Ende Juni festgenommen und sitzt seither in Untersuchungshaft wegen Beihilfe zum Mord. Nach Auffassung der Bundesanwaltschaft hat er den mutmaßlichen Täter Stephan E. zudem bestärkt, das Attentat auszuführen, es habe gemeinsame Schießübungen gegeben.
Aus einem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 22. August 2019 zu einer Haftbeschwerde von Markus H. geht hervor, dass unter anderem DNA-Spuren am Opfer das ursprüngliche Geständnis von Stephan E. stützten.
Außerdem hieß es, auch nach dem Widerruf von E. bestehe „kein Anlass, an dem Wahrheitsgehalt der Einlassung zu zweifeln“. Die Ermittler werden die neuen Aussagen nun überprüfen. Letztlich wird das Oberlandesgericht Frankfurt dann in dem Prozess bewerten müssen, welcher Version zum Tathergang es Glauben schenkt.
Zu den Vorwürfen gegen seinen Mandaten sagte der Verteidiger von Markus H., den Stephan E. nun belastet hat, nichts. Er erklärte aber: „Es kann sich im Übrigen jeder Beobachter selbst die Frage stellen, wie glaubwürdig jemand ist, der im Laufe des Verfahrens ständig mit neuen Versionen eines Geschehens aufwartet, zu dem er ursprünglich ein vollständiges Geständnis abgelegt hat.“
Ermittlungen laufen weiter
Ursprünglich sollte die Anklage bereits Anfang Januar erhoben werden. Das könnte sich jetzt etwas verzögern - möglicherweise kann der Prozess aber schon im Frühjahr beginnen.
Mit dem neuen Geständnis hat der Anwalt eine erste Linie für seine Verteidigungstaktik vorgegeben - ihm dürfte es auch darum gehen, vom Vorwurf des Mordes wegzukommen, der bei einer Verurteilung mit lebenslanger Haft bestraft wird.
Gibt es neue Hinweise auf ein rechtes Netzwerk? Politiker fordern bereits seit längerem, genau dieser Frage nachzugehen.
Unter anderem erscheint ein Punkt in den neuen Aussagen von Stephan E. brisant: Dem Anwalt zufolge hatte er den Mord zunächst auf sich genommen, um Markus H. zu schützen. Gleichzeitig sollen ihm dafür Schutz und finanzielle Vorteile für seine Familie angeboten worden sein.
Wer dies Stephan E. angeboten haben soll, lässt der Anwalt auch auf Nachfrage offen. Gab es Helfer und Mitwisser aus der Kasseler Neonaziszene? Geht es womöglich um eine terroristische Vereinigung? Diesen Fragen müsse nachgegangen werden, fordern Politiker.
Es ist davon auszugehen, dass es einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Fall Lübcke geben wird - zumindest im hessischen Landtag. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) hat sich dafür schon offen gezeigt. Bevor die Abgeordneten ein solches Gremium einsetzen, warten sie üblicherweise das Ende der Ermittlungen ab.