Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stellt an diesem Dienstag zusammen mit Familienministerin Lisa Paus (Grüne) und dem Präsidenten des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, ein aktuelles Lagebild zur häuslichen Gewalt vor. Seit Jahren steigt in Deutschland die Zahl der von der Polizei registrierten Delikte, die in diese Kategorie fallen. Zudem bemühen sich Polizei und Wissenschaftler, das sogenannte Dunkelfeld aufzuklären. Dieses wird bei dieser Art von Straftaten, die oft in der heimischen Wohnung begangen werden, als sehr groß eingeschätzt wird.
Faeser hatte am vergangenen Wochenende in der „Bild am Sonntag“ ein striktes Vorgehen bei Gewaltfällen in der Partnerschaft gefordert. Sie sagte: „Gewalttäter dürfen nicht schnell wieder vom Radar verschwinden. Sie müssen nach dem ersten gewaltsamen Übergriff aus der Wohnung verwiesen werden.“ Die Mehrheit der Opfer von Gewalt in Familie und Partnerschaft ist weiblich. Anders als in Deutschland, ist die von männlichen Angehörigen, Partnern und Ex-Partnern ausgeübte Gewalt gegen Frauen in Frankreich und Spanien ein Thema, das in der Öffentlichkeit sehr breit diskutiert wird. Opfer häuslicher Gewalt werden aber nicht nur Partnerinnen und Partner, sondern auch Kinder.
SPD, Grüne und FDP hatten in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten: „Wir werden das Recht auf Schutz vor Gewalt für jede Frau und ihre Kinder absichern und einen bundeseinheitlichen Rechtsrahmen für eine verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern sicherstellen.“ Für Frauen mit Kindern ist es in manchen Regionen Deutschland mitunter schwierig, einen freien Platz in einem Frauenhaus zu finden.
Ein besonders mit Scham behaftetes Phänomen ist die Gewalt von Jugendlichen gegen ihre Eltern. Bei alten Menschen besteht das Risiko von Vernachlässigung und Misshandlung durch - oftmals überforderte - pflegende Angehörige.
Was ist häusliche Gewalt?
Bei häuslicher Gewalt greifen laut der Soziologin Petra Brzank viele Gewaltformen ineinander. Das Ziel: Macht und Kontrolle über eine andere Person zu erlangen und zu festigen. „Dazu zählen körperliche, sexualisierte, psychische, ökonomische und auch soziale Gewalt, also etwa das Isolieren der Frau von Freunden und Familie“, sagt Brzank, die an der Hochschule Nordhausen in Thüringen lehrt.
Zu häuslicher Gewalt zählt das BKA alle Formen körperlicher, sexueller oder psychischer Gewalt zwischen Personen, die in einer familiären oder partnerschaftlichen Beziehung zusammenleben. Damit beschreibt es auch Gewalt in der Familie oder (Ex-)Partnerschaft, die nicht im gemeinsamen Haushalt stattfindet.
Wo fängt häusliche Gewalt an?
Häusliche Gewalt beginnt nicht erst mit körperlichen Übergriffen. Es ist vielmehr ein schleichender Prozess, der oft etwa mit Kritik, Eifersucht, Bedrohungen, Beschimpfungen und Kontrolle anfängt, wie Petra Söchting, Leiterin des bundesweiten Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“, erklärt. „Ganz typisch ist, dass die Situation dann mehr und mehr eskaliert, dass die Grenzverletzungen stärker werden, und es dann irgendwann tatsächlich auch zu massiven körperlichen Übergriffen kommt.“
Wie verbreitet ist häusliche Gewalt in Deutschland?
Im vergangenen Jahr sind in Deutschland deutlich mehr Fälle häuslicher Gewalt gemeldet worden. 2022 registrierten die Behörden 157 550 Fälle von Gewalt in Partnerschaften, wie die Deutsche Presse-Agentur am Sonntag erfuhr. Zuvor hatte die „Bild am Sonntag“ berichtet. Das entspricht 432 Fällen pro Tag. 2021 waren es 144 044 Fälle. Der Anstieg liegt bei 9,4 Prozent. Rund 80 Prozent der Opfer waren Frauen. 78 Prozent der Verdächtigen waren Männer. 40 Prozent der Täter waren Ex-Partner, 60 Prozent aktuelle Partner.
Wie hoch wird die Dunkelziffer geschätzt?
Die Zahlen häuslicher Gewalt dürften weit höher liegen als die Zahlen aus den Auswertungen des Bundeskriminalamtes, die nur die bei der Polizei gemeldeten Fälle enthalten. „Dunkelfeld-Studien gehen von 25 Prozent aus“, sagt Soziologin Brzank. In den Corona-Jahren habe das Gefährdungspotenzial zugenommen, erklärt die Leiterin des Hilfetelefons: Mehr Frauen hätten angerufen, und Rat und Unterstützung gesucht.
An wen können sich Betroffene wenden?
Bundesweit gibt es rund 400 Frauenhäuser, rund 100 Schutzwohnungen und mehr als 750 Beratungsstellen. Wer den Gang zur Polizei oder zu einer Beratungsstelle scheut, kann auch über Chats und Hilfetelefone Unterstützung erhalten. „Der erste Schritt nach außen fällt Betroffenen oft unglaublich schwer“, sagt Hilfetelefon-Leiterin Söchting. Über die Nummer 116 016 könnten Frauen kostenlos, anonym und vertraulich rund um die Uhr anrufen. Die mehrsprachigen Beraterinnen zeigen Handlungsoptionen auf, helfen etwa bei der Entwicklung von Notfallplänen. Für gewaltbetroffene Männer gibt es das Hilfetelefon „Gewalt an Männern“ unter der Nummer 0800 1239900.
Was können Außenstehende tun, die häusliche Gewalt bemerken?
Bemerke man Gewalt oder Aggressionen - ob in der Familie, der Nachbarschaft, bei Freunden oder Bekannten - gilt laut Söchting: „Es ist wichtig, nicht wegzuschauen.“ Man könne versuchen, konkrete Hilfe anzubieten, nach Beratungsmöglichkeiten suchen oder vorschlagen, zu Beratungsstellen mitkommen. Auch Soziologin Brzank rät: „Sensibel ansprechen, nachfragen, die eigenen Sorgen deutlich machen. Mich nicht distanzieren und weiterhin Freundschaft und Offenheit signalisieren.“
Wie kann man Kinder am besten schützen?
„Kinder erleben die Gewalt mit, sie sehen und hören ja, was passiert“, sagt Söchting. Auch wenn sie nicht selbst Gewalt erlebten, seien sie immer Mitbetroffene. Wichtig sei, den Kinderschutz im Blick zu behalten und Unterstützungsangebote zu finden. Kinder, Jugendliche und Eltern können auch anonym und kostenlos unter dem Kinder- und Jugendtelefon „Nummer gegen Kummer“, anrufen. Die Nummer lautet 116 111.