In Frankreich schien der Wahlkampf auszufallen. Für eine einzige Veranstaltung fand Präsident Macron Zeit. Ansonsten präsentiert er sich als zu beschäftigt in der Rolle des Beschützers in Zeiten von Pandemie und Krieg in Europa, um sich auf Fernsehduelle mit seinen HerausforderInnen einzulassen. Dabei nutzt er einen der wenigen Vorteile des russischen Überfalls auf die Ukraine. Dank Amtsinhaberbonus erscheint Macron in allen Medien präsidial bei der Behandlung weltpolitischer Fragen, während die Herausforderer Mühe haben, sich überhaupt Aufmerksamkeit zu verschaffen. Wenn dies nicht über die direkte Auseinandersetzung mit dem Präsidenten gelingt und es schwer ist, inhaltlich zu punkten, bleiben nur Provokation und Grenzverletzung.
Präsident Macron und seine rechtsextremen Herausforderer
Für solche Formen der politischen Kommunikation waren schon in der Vergangenheit Vater und Tochter Le Pen bekannt und beunruhigend erfolgreich, auch wenn es nie zu einem Wahlsieg gereicht hat. Denn am Ende erschienen rechtsradikale, xenophobe und nationalistische Parolen der Wählerschaft in der politischen Mitte als zu schrill und inakzeptabel, auch wenn viele Positionen mehr oder weniger offen geteilt und vorhandene Vorurteile und Ängste gezielt angesprochen wurden. Marine Le Pen zog daraus bei dieser Wahl den Schluss, weniger radikal aufzutreten, um konservative Kreise besser anzusprechen. Dies eröffnete allerdings politischen Newcomern wie dem Journalisten Éric Zemmour die Möglichkeit, Le Pen rechts zu überholen und ihr mit offen ausländerfeindlichen und islamophoben Tabubrüchen nicht nur Wähler vom rechten Rand abzuwerben, sondern auch seine Bekanntheit zu erhöhen, weil seine Entgleisungen in den Kommentarspalten und Talkshows ausgiebig verhandelt wurden. Hinzu kam eine medienwirksame Beziehung zu einer schönen und sehr viel jüngeren Frau, was ihm weitere Aufmerksamkeit der Boulevardmedien sicherte.
Überdies streiten sich nicht nur Zemmour und Le Pen um dieselben rechten Wählerstimmen. Es gibt außerdem noch gemäßigte rechte Kandidaten und schillernde Alternativen am linken Rand, was im Ergebnis die Chancen Le Pens auf den Einzug in den zweiten Wahlgang zu schmälern schien. Jedoch ist sie wahlkampferfahrener und hat auch ein Gespür für Themen, die emotional gut ankommen.
Wahlen in Kriegszeiten
In Zeiten, in denen eine gesellschaftliche Mehrheit überzeugt ist, dass der Westen geeint gegenüber Putin auftreten muss, verfangen rechte Parolen und nationalistische Fantasien jedoch weniger als in Wahlkämpfen, in denen es vor allem um Themen wie Einwanderung, innere Sicherheit oder soziale Fragen geht. Auch diese haben eine emotionale Dimension und eignen sich für populistische Vereinfachungen. Aber in Kriegszeiten treten gesellschaftliche Konflikte etwas in den Hintergrund. Wegen der äußeren Bedrohung steht man geeinter hinter der eigenen politischen Führung, unabhängig davon, ob man sie gewählt hat oder nicht. Wie sich in Ungarn und Serbien gezeigt hat, gilt dies auch für die Wiederwahl nationalistischer Regierungen, auch wenn sich die Umstände der Wahlen dort kaum mit denen in Frankreich vergleichen lassen.
Ihre Nähe zum Kreml ist ein weiterer Nachteil für Marine Le Pen, der ihre Wahlchancen verschlechtert. Man erinnert sich an den russischen Kredit, den sie sich besorgt hat. Und ein Flyer, der sie mit Putin zeigte, war schon für den Wahlkampf gedruckt, als der Überfall auf die Ukraine begann.
Die Europäische Union, aus der Le Pen Frankreich zeitweilig herausführen wollte, hat bei allen Schwierigkeiten in der Pandemie und gegenüber Russland eine gute Figur gemacht. Und die Erfahrung mit dem Brexit erzeugte deutlich weniger Appetit auf eine frei gewählte Selbstisolation, so dass nicht nur in Frankreich, sondern auch rechte Populisten in den Niederlanden, Tschechien oder Italien ihre Positionen der EU, ihren Werten und Prinzipien gegenüber moderater formulierten.
Trotz aller Widrigkeiten hat laut Umfragen eine Woche vor dem ersten Wahlgang die Spitzenkandidatin des Rassemblement National den Abstand auf Macron reduzieren können. Erklärt wird das dadurch, dass die Folgen des Ukrainekrieges wirtschaftlich bereits zu spüren sind. Denn es ist eine Sache, bei Kriegsbeginn geeint für die Verteidigung westlicher Werte einzustehen, aber eine andere, wie man mit der höchsten Inflation seit den frühen 1980er Jahren infolge des Krieges umgehen soll. Mag wirtschaftliches Wachstum nur eine abstrakte ökonomische Größe sein, so betrifft der deutliche Kaufkraftverlust sozial Schwächere unmittelbar. Aber auch hier kann Macron auf Unterstützung der EU hoffen. Nicht nur ist Frankreich einer der größten Nutznießer des 2021 beschlossenen Wiederaufbaufonds NextGenerationEU, auch die flexible Auslegung der Verschuldungsregeln der Europäischen Währungsunion in besonderen Krisenzeiten erlaubt es dem amtierenden Präsidenten, Versprechungen zu machen, die ihm zu Beginn seiner Amtszeit noch verwehrt waren.
So bleibt Europa hoffentlich die Horrorvision erspart, dass im Osten Krieg herrscht und im Westen mit dem Einzug einer rassistischen Nationalistin in den Élysée-Palast innerhalb weniger Wochen eine weitere politische Zeitenwende ansteht.