Die Türkei agiert in ihrer Außenpolitik mit einer positiven Agenda und unterhält, teils mittels Hintertür-Diplomatie, teils offen, Beziehungen zu vielen Staaten. Die wichtigsten Akteure, die diesbezüglich hervorstechen, sind die EU, Israel, Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Dabei sei vermerkt, dass konkrete Fortschritte bei den Sondierungen mit der EU, mit Israel und Ägypten erzielt wurden. So versuchen Türkei und EU, die bei Themen wie der Flüchtlingsfrage, der Visumsfreiheit, der Zollunion und den Menschenrechten unterschiedliche Auffassungen vertraten, ihre Beziehungen wieder auf die Ebene des gegenseitigen Respekts und des Interessensausgleichs zu bringen. Tatsächlich spiegelte sich dieser gegenseitige gute Wille bei den jüngsten Sondierungsgesprächen bereits wider.
Ebenso sind Fortschritte bei den diplomatischen Bemühungen mit Israel und Ägypten zu verzeichnen. So ist die Einladung des israelischen Ministers für Energieversorgung zum Energieforum, das im vergangenen Juni veranstaltet wurde, ein konkretes Beispiel dafür. Die Widrigkeiten bei der Bildung einer neuen Regierung in Israel verlangsamen jedoch diesen Prozess.
Die Diplomatie der Hintertür, die seit fast einem Jahr zwischen der Türkei und Ägypten praktiziert wird, ist nunmehr so weit gediehen, dass mittlerweile offizielle diplomatische Treffen auf der Ebene der Vizeminister stattfinden. Bevor wir zu den thematischen Inhalten und den möglichen Auswirkungen dieser Sondierungen kommen, sollten wir ein Auge darauf werfen, warum die Beziehungen zwischenzeitlich angespannt waren.
Anspannung der Beziehungen und Problemfelder
Nach dem Militärputsch in Ägypten vom 3. Juli 2013 nahmen die Spannungen zwischen den beiden Staaten zu, und die Kommunikation wurde auf ein Minimum reduziert, insbesondere als am 23. November der türkische Botschafter in Kairo und im Gegenzug der Vertreter Ägyptens in Ankara jeweils zur „persona non grata“ erklärt wurde. Ägypten stufte die Muslimbruderschaft als Terrororganisation ein und baute einen enormen Fahndungsdruck gegen ihre Strukturen auf, was dazu führte, dass viele Anhänger ins Exil gingen, unter anderem auch in die Türkei. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass obschon die Türkei Muslimbrüder im eigenen Land toleriert, sie ihnen nicht gestattet, Aktivitäten gegen Ägypten zu entfalten und sie auch nicht politisch gegen Ägypten instrumentalisiert. Diese Spannungen wirkten sich jedoch nicht nur auf die bilateralen Beziehungen der beiden Länder aus, sondern spiegelten sich auch in regionalen Fragen wie dem östlichen Mittelmeer und Libyen wider. Insbesondere seit 2014 stehen sich die Türkei und Ägypten bei diesen Themen auf jeweils verschiedenen Seiten gegenüber.
Einer der größten Unterstützer von Haftar, der seit Mitte 2014 um die Machtübernahme in Libyen kämpft, war Ägypten. Die Türkei hingegen begann 2019 mit Unterstützung der libyschen Regierung Maßnahmen gegen Haftar, dessen Propaganda man sich bis 2020 prinzipiell entgegenstellte, und seine Verbündeten zu ergreifen. So standen sich die Türkei und Ägypten auch in der Libyenfrage auf verschiedenen Seiten gegenüber, doch sollte angemerkt werden, dass es nicht zu einer direkten Konfrontation kam. Ägypten wurde überwiegend im Osten Libyens aktiv, wohingegen die Türkei um Tripolis herum die Regierung unterstützte. Die Interventionen der Türkei hinderten einerseits Haftar daran, Tripolis einzunehmen, und stärkten darüber hinaus die Position der libyschen Regierung bei den von den Vereinten Nationen geführten Verhandlungen.
Während Ägypten, Griechenland und Israel im östlichen Mittelmeer gemeinsam agieren, gelang es der Türkei ebenfalls, Akteur im östlichen Mittelmeerraum zu werden, obwohl sie bis dato keine Partner vorweisen kann. Ägypten, Griechenland und Israel ließen die Türkei außen vor und unterzeichneten untereinander mehrere Vereinbarungen. Zudem sind sie mit Unterstützung der USA die Führungsmächte des östlichen Mittelmeerforums. Trotzdem konnten sie im östlichen Mittelmeerraum nicht in dem von ihnen gewünschten Maße von der Energieressource Kohlenwasserstoff profitieren. Es ist offensichtlich, dass weder Ägypten noch Israel ihr Potenzial im östlichen Mittelmeerraum in dem von ihnen angestrebten Umfang ausschöpfen können. Das EastMed-Projekt, mit dem das Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeerraum nach Europa transportiert werden sollte, und die Bemühungen, Erdgas in flüssiger Form zu transportieren, wurden aufgrund der hohen Kosten eingestellt. Die permanente Präsenz von türkischen Schiffen im östlichen Mittelmeerraum und das im November 2019 mit Libyen unterzeichnete Abkommen über die Abgrenzung ihrer maritimen Interessensphären zeigte gleichzeitig die Grenzen der Griechenland-Israel-Ägypten-Allianz auf. So konnte die von türkischen Geheimdienstbeamten und ihren ägyptischen Amtskollegen initiierte Hintertür-Diplomatie auf Seiten Ägyptens bewirken, dass die Sensibilitäten der Türkei bei der mit Griechenland unterzeichneten Vereinbarung und den ausgestellten Lizenzen berücksichtigt wurden. Entsprechende Erklärungen ägyptischer Verantwortungsträger im März galten als erste Indizien einer Normalisierung zwischen der Türkei und Ägypten. Die Hintertür-Diplomatie, die seit geraumer Zeit fortgeführt wird, verantwortet nunmehr seit April das türkische Außenministerium.
Inhalte der Sondierungsgespräche
Nach achtjähriger Unterbrechung fanden am 5. und 6. Mai hochrangige Sondierungen auf Ebene der Vizeminister statt und weichten die verhärteten Fronten auf. Als Ziele der Sondierungen können kurzfristig die Normalisierung der Beziehungen und mittelfristig –durch Übereinkünfte hinsichtlich der Konfliktfelder – deren Umwandlung in Kooperationsfelder angeführt werden.
Die Verlautbarungen beider Seiten deuten darauf hin, dass die Sondierungen in einer konstruktiven Atmosphäre erfolgten und entsprechend fortgesetzt werden sollen. Auch wenn zum Inhalt der Gespräche nichts verlautbart wurde, ist es nicht schwer abzuschätzen, dass die Aktivitäten von Einzelpersonen und Organisationen der Muslimbruderschaft in der Türkei, Libyen, das östliche Mittelmeer sowie Palästina thematisiert wurden. Nachrichten im Vorfeld der Sondierungsgespräche, wonach die Muslimbruderschaft achtsamer bei der Entfaltung ihrer Aktivitäten sein wolle und zurückhaltender mit ihrer Rhetorik gegenüber der ägyptischen Regierung, deuteten daraufhin, dass dieses Thema mit Blick auf kritischere Fragen wie das östliche Mittelmeer und Libyen möglicherweise kein Problemfeld mehr für die weiteren Sondierungsgespräche darstellen wird. Darüber hinaus sollten die Themenbereiche Libyen und östliches Mittelmeer separat in einem breiteren Kontext mit ihren Implikationen auf die EU bzw. deren Mitgliedstaaten bewertet werden.
Mögliche Ergebnisse der Sondierungen und ihre Auswirkungen auf die EU
Die derzeitige Gemengelage ist ein wichtiges Indiz dafür, dass bei den Sondierungen greifbare Fortschritte erzielt werden konnten. Doch es wäre zu verfrüht zu behaupten, dass in allen relevanten Themengebieten eine umfassende Einigung erzielt werden kann. Andererseits erfordern es die gemeinsamen Interessen beider Staaten bezogen auf regionale Fragen, dass sie auf einer bestimmten Basis Kompromisse eingehen. Insbesondere Libyen und das östliche Mittelmeer sind zwei Themenfelder, bei denen gemeinsame Interessen im Vordergrund stehen. Im Rahmen des Möglichen liegt auch, dass Kohlenwasserstoff-Ressourcen durch eine Übereinkunft mit der Türkei nach Europa vermarktet werden könnten, was viel weniger kosten würde als das EastMed-Projekt. Doch dafür wird eine Vereinbarung zwischen der Türkei und Ägypten nicht genügen. Neben Staaten wie Israel und Libanon, die an das östliche Mittelmeer angrenzen, müssten europäische Staaten, die potenzielle Abnehmer sind, ebenfalls in solch eine Unternehmung eingebunden werden. Doch ein potenzielles Abkommen zwischen der Türkei und Ägypten wäre ein wichtiger erster Schritt.
Mögliche Übereinkünfte sowohl zum Thema Libyen als auch zum östlichen Mittelmeer können darüber hinaus zu positiven Auswirkungen für die EU und die europäischen Staaten führen. Die Stabilisierung Libyens und der daraus resultierende mögliche Rückgang der Migration von Afrika nach Europa über dieses Land wird es ermöglichen, dass allen voran Staaten wie Italien und Frankreich, die traditionell enge Beziehungen zu Libyen pflegen, dieses Potenzial wiederbeleben können.
Eine mögliche Übereinkunft zwischen der Türkei und Ägypten im östlichen Mittelmeer und die daraus potentiell resultierende Beschleunigung des Transports von Energieressourcen nach Europa ist aus Sicht Deutschlands und im Allgemeinen für ganz Europa sehr entscheidend. Dieses Szenario wäre für die Verringerung der Energieabhängigkeit Europas von Russland von enormer Bedeutung. Dadurch hätte Deutschland eine Alternative zum „North Stream 2“- Projekt, das mit Russland unterzeichnet wurde und seitens der USA scharf kritisiert wird. Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, wäre es für die EU und die europäischen Staaten ein sehr rationales Verhalten, zur Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Ägypten beizutragen und diesen Umstand in eine Chance zu wandeln.