Am Morgen des 11. Mai wurde Shirin Abu Akleh, laut Augenzeugenberichten und Aussagen des palästinensischen Gesundheitsministeriums, durch einen Schuss in den Kopf von israelischen Soldaten getötet, während sie über einen israelischen Angriff auf den Ort Dschenin im militärisch von Israel seit 1967 illegal besetzten Westjordanland berichtete. Ihrem Kollegen Ali Samoudi wurde in den Rücken geschossen. Er überlebte.
„Gezielte Hinrichtung“
Die Journalisten trugen kugelsichere Helme und Westen, die klar mit den Worten „Presse“ gekennzeichnet waren. Die israelischen Soldaten schossen, ohne die Journalisten vorher gebeten zu haben, zu gehen oder die Dreharbeiten einzustellen, so Samoudi. Eine weitere Augenzeugin, die Journalistin Shatha Hanaysha, erklärte, es habe am Tatort keine Konfrontationen zwischen der israelischen Armee und Palästinensern gegeben. Abu Akleh sei gezielt hingerichtet worden. „Die israelische Armee hörte nicht auf zu schießen, selbst nachdem sie zusammengebrochen war. Ich konnte nicht einmal meinen Arm ausstrecken, um sie wegzuziehen, weil Schüsse abgefeuert wurden. Die Armee bestand darauf, zu töten,” so Hanaysha.
Nach Abu Aklehs Ermordung terrorisierten israelische Truppen Familie und Freunde des Opfers. Sie stürmten das Haus der Abu Akleh-Familie. Selbst nach ihrem Tod wurde Abu Akleh angegriffen. Auch die Beerdigung der Journalistin am 13. Mai in Jerusalem wurde von israelischen Soldaten unterbrochen. Israelische Soldaten gingen mit brutaler Gewalt auf Trauernde los, die den Sarg der ermordeten Journalistin trugen.
Die in Jerusalem geborene Abu Akleh, die auch US-Bürgerin war, arbeitete 25 Jahre lang als Journalistin für Al Jazeera in Palästina. Viele Journalisten zitieren Abu Akleh als Vorbild. Sie ist in der gesamten arabischsprachigen Welt bekannt und als mutige „Stimme Palästinas“ hoch anerkannt. Ihr Tod hat viele in tiefe Trauer versetzt.
Übliche und erwartete Reaktionen
Der Kontrast zwischen regionalen und internationalen Reaktionen auf die Tötung der Journalistin zeigt erneut, wie einseitig der mediale und politische Diskurs um Palästina ist.
Laut der UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, stellt das Verbrechen eine „schwerwiegende Verletzung des humanitären Völkerrechts” und möglicherweise ein Kriegsverbrechen dar. „Der Mord an Abu Akleh muss auf transparente, rigorose und unabhängige Weise gründlich untersucht werden“, forderte Albanese.
Rufe nach einer Untersuchung und Aufklärung gab es viele, auch von Seiten der Vereinigten Staaten. Die Wortwahl in den jeweiligen offiziellen Statements ist jedoch sorgfältig gewählt. Israel wird nicht direkt erwähnt.
Das Problem ist aber eines der strukturellen Unterdrückung. Wer soll eine unabhängige Untersuchung durchführen? Die Tötung und Vertreibung der Palästinenser ist fundamentaler Bestandteil der israelischen Politik in den besetzten Gebieten, die vor allem von der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten vor jeglicher Verurteilung geschützt wird. Seit Jahren veröffentlicht die EU die gleichen kurzen Stellungnahmen, in denen Gewalt verurteilt und Besorgnis ausgesprochen wird, ohne dabei auf die Ursachen einzugehen oder irgendwelche Konsequenzen zu ziehen.
„Zusammenstöße“ in westlichen Medien
Dass palästinensischen Aussagen kaum Wert beigemessen wird, wurde direkt nach Abu Aklehs Tötung in westlichen Medien erneut deutlich.
Die internationale Berichterstattung zeigt wiederholt das strukturelle Problem der anti-palästinensischen Orientierung westlicher Medien. So haben sich viele der größten Medien erneut einer rassistischen Grammatik bedient, in der die Umstände des Mordes nicht klarwerden.
So schreibt die New York Times in ihrer Schlagzeile: „Al Jazeera-Journalistin während Zusammenstößen im Westjordanland getötet.“ Auf die grundlegende Information, von wem und wie sie getötet wurde, wird nicht eingegangen. Ähnlich schreibt auch France24 „Al Jazeera-Journalistin getötet, während sie über einen israelischen Überfall im Westjordanland berichtete.“ Neben den gewohnt vagen und distanzierten Schlagzeilen wurde die Hinrichtung teils auch als Mysterium präsentiert. So hieß es in einer Schlagzeile des Senders Fox News „Al Jazeera-Reporterin stirbt nach umstrittenem Vorfall im Westjordanland“. Weiterhin schrieb die New York Times „Shireen Abu Akleh, bahnbrechende palästinensische Journalistin, stirbt im Alter von 51 Jahren“. Ein Leser, der den Kontext nicht kennt, könnte eventuell glauben, Abu Akleh sei an einer Krankheit oder an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben.
Der Tod von Palästinenserinnen wird normalisiert. Die Indifferenz westlicher Journalisten ihren palästinensischen Kolleginnen gegenüber ist alarmierend. Sorgen um Presse- und Meinungsfreiheit oder um die Sicherheit von Journalisten im besetzten Palästina werden kaum diskutiert.
An Euphemismen schwer zu überbieten scheint aber der Bericht des deutschen Staatssenders „Deutsche Welle“. Laut diesem „erlitt“ Abu Akleh „bei Auseinandersetzungen zwischen Israels Armee und Palästinensern in Dschenin im Westjordanland tödliche Kopfverletzungen.“ Es klingt fast, als ob der Sender der getöteten Abu Akleh unterstellen würde, selbst in Auseinandersetzungen verwickelt worden zu sein, die jedoch, wie von Augenzeugen berichtet, am Tatort gar nicht stattfanden.
Im Artikel der Deutschen Welle wird zunächst die mittlerweile zurückgezogene Unterstellung des israelischen Militärs präsentiert, nach der „bewaffnete Palästinenser“ involviert gewesen sein sollen. Auch die Tagesschau zitiert als erste Quelle in ihrem Artikel den israelischen Premierminister, der behauptet hatte, Palästinenser „hätten wahllos um sich geschossen“.
Medien wie Deutsche Welle perpetuieren koloniale Narrative von angeblichen ewigen „Auseinandersetzungen“, benutzen passive Syntax und sind sehr vorsichtig, das israelische Regime in einem zumindest neutralen Licht darzustellen – unabhängig davon, wie brutal und wie gut dokumentiert israelische Verbrechen sind. Letztendlich sind es die westlichen Medien, die aktive Arbeit für das Image Israels leisten.
Palästinensische Erfahrungen und Augenzeugenberichte haben, genauso wie palästinensisches Leben an sich, kaumWert im deutschen oder westlichen Diskurs. Letztendlich werden mehr als sieben Jahrzehnte palästinensischer Realität der Verfolgung und Vertreibung auch weiterhin als mysteriöse „Ausschreitungen im Westjordanland“ oder kontextloser „Konflikt“ verharmlost.
Gewalt an Journalisten
Die Ermordung von Abu Akleh ist kein Einzelfall. Unter Israel sind palästinensische Journalisten Opfer struktureller Gewalt. Neben den alltäglichen Qualen der Militärbesatzung werden Journalisten regelmäßig verfolgt, verhaftet und getötet. Letztes Jahr bombardierte das israelische Militär ein Medienhaus in Gaza, in dem sich auch die Büros Al Jazeeras und der AP befanden.
Laut Amnesty International ist Abu Aklehs Ermordung „eine blutige Erinnerung an das tödliche System, in dem Israel Palästinenser einsperrt.“ „Israel tötet Palästinenser links und rechts, ungestraft. Wie viele müssen noch getötet werden, bevor die internationale Gemeinschaft handelt, um Israel für die anhaltenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen?“, fragte Saleh Higazi, stellvertretender Direktor von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika.
Wie die andauernden israelischen Angriffe zeigen, wird Abu Akleh auch nach ihrer Ermordung von Israel nicht in Frieden gelassen. Palästinensische Journalisten sind weiterhin Gewalt ausgesetzt.