Ob Russland die Ukraine angreifen würde oder nicht, gehörte zu jenen Fragen, die auf der Tagesordnung der gesamten Welt standen. Nun setzt Russland seine Angriffe auf die Ukraine schon seit 8 Tagen fort. In verschiedenen Regionen des Landes dauern die Zusammenstöße noch immer an. Insbesondere die Zivilbevölkerung hat unter den vielschichtigen Kriegsschäden zu leiden. Man geht davon aus, dass die politische Landschaft Europas, das jetzt erneut mit einer großen Flüchtlingswelle konfrontiert werden wird, im besonderen Maße betroffen sein wird, wie es bereits beim Zustrom von Flüchtlingen 2015 der Fall war.
Migration ist ein politisches Instrument
Wirtschaftliche Instabilität, Bürgerkriege und ausländische Interventionen befördern Flüchtlingsbewegungen mehr denn je. Insbesondere die Bewältigung der Folgen von Massenflucht stellt die Nachbarländer vor schwierige Herausforderungen. Und so ist diese Frage schon längst nicht mehr nur eine äußere Angelegenheit von Staaten, sondern auch eine innere und ebenso ein Feld zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen. Die politische Instrumentalisierung von Migration und Flucht, so scheint es zumindest, gehört inzwischen zu den Techniken einer verdeckten Kriegsführung. Erinnert sei hier beispielsweise an die Flüchtlinge, die an die polnisch-belarussische Grenze gesteuert und zu einem politischen Werkzeug in der Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen wurden. Unlängst warnte der US-Senator Murphy davor, es sei das langfristige Ziel des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die NATO und das transatlantische Bündnis zu zerstören, und dieser werde versuchen, eine Flüchtlingskrise aus der Ukraine in eine politische Waffe zu verwandeln. Ebenso steigen die Chancen für migrationsfeindlich gesinnte rechtsextreme Parteien, die vermehrt Einfluss auf die europäische Politik nehmen. In Zeiten, in denen jüngst liberale Parteien der Mitte in der europäischen Politik Boden gutmachen konnten, könnten jetzt wegen der Ukraine-Krise rechtsextreme Parteien an Zulauf gewinnen.
Nach der Annexion des Donbass und der Krim waren Flüchtlingswellen zu verzeichnen
Ähnlich wie bei dieser Invasion starben bereits bei der russischen Invasion der Donbass-Region 2014 14.000 Menschen, weitere 30.000 wurden verletzt. Etwa 1,5 Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen. Statt in den Westen zu fliehen, zogen es die Ukrainer vor, sich in den westlichen Regionen des Landes anzusiedeln. Entsprechend gab es 2014 keinen nennenswerten Flüchtlingszustrom in die EU-Länder. Diesmal erscheint der russische Vormarsch in der Ukraine noch unerbittlicher. Angesichts der Tatsache, dass sich die aktuelle Härte bei den Angriffen vom Vorgehen 2014 unterscheidet, nimmt man an, dass der Flüchtlingsstrom diesmal größer sein wird. Möglicherweise wird es auch kein ukrainisches Territorium mehr geben, um die Flüchtlinge selbst aufzunehmen. Schätzungen zufolge könnten bis zu 7 Millionen Menschen gezwungen sein, ihre Heimat zu verlassen, wenn Russland 20 % des ukrainischen Territoriums dauerhaft besetzen würde. Tatsächlich warnt der ukrainische Verteidigungsminister Oleksii Reznikov, ganz Europa werde unter den Folgen eines großen Kriegs in der Ukraine zu leiden haben und die Flucht von drei bis fünf Millionen ukrainischen Menschen vor den russischen Invasoren werde nur eine der vielen großen Sorgen sein, mit denen die europäischen Gesellschaften konfrontiert wären. In diesem Sinne mahnt er die EU-Staaten, Verantwortung zu übernehmen.
Nachbarländer treffen trotz Unwägbarkeiten Vorkehrungen
Man erwartet, dass sich ukrainischsprachige Flüchtlinge höchstwahrscheinlich in Richtung der EU-Staaten an der Westgrenze der Ukraine, also Polen, Slowakei, Ungarn und Rumänien in Bewegung setzen werden. Entsprechend geht man davon aus, dass russischsprachige Ukrainer nach Russland oder Belarus fliehen werden. Vor acht Jahren etwa, also in der Anfangsphase des Konflikts in der Ostukraine, flüchtete eine bedeutende Anzahl russischsprachiger Ukrainer nach Russland. Vor allem Nachbarländer erklären bereits seit Tagen ihre Bereitschaft, flüchtende Zivilisten aufzunehmen. Nach den Vorstellungen humanitärer Hilfsorganisationen wird Polen eines der Länder sein, welche die erste Flüchtlingswelle bewältigen sollen. Der stellvertretende polnische Innenminister Maciej Wąsik unterstrich dazu in seinem Radio-Interview seine Warnungen wie folgt: „Wir müssen auf das Worst-Case-Szenario vorbereitet sein und Maßnahmen ergreifen, um uns auf die Aufnahme von bis zu einer Million Menschen vorzubereiten.“ Auch die baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen bereiten sich darauf vor, ukrainische Flüchtlinge aus Polen oder anderen kommerziellen Flugdestinationen aufzunehmen. Lettland plant gar den Aufbau eines ganzen Netzwerks von Flüchtlingszentren an der Ostgrenze des eigenen Landes. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge tut sich schwer damit, abzuschätzen, wie viele Menschen insgesamt aus ihrer Heimat vertrieben werden könnten und wie viele bei dem sich verschärfenden Konflikt gar versuchen würden, das Land zu verlassen. Seitens der UNHCR-Sprecherin in Kiew, Victoria Andriesvska, heißt es hierzu: „Zu diesem Zeitpunkt bleibt die Situation äußerst unvorhersehbar und ungewiss. Daher können wir keine Schätzungen über die Zahl von zu erwartenden Flüchtlingen abgeben.“ Doch laut einer Erklärung der UN vom Sonntag haben sich seit Beginn der Militärintervention bereits mehr als 368.000 Flüchtlinge in Nachbarländer abgesetzt. Ein UNCHR-Sprecher unterstrich die aktuellen Unwägbarkeiten und erklärte: „Es werden große Bewegungen über internationale Grenzen hinweg gemeldet. Die Situation ist im Fluss und ändert sich stündlich.“
Unwägbarkeiten des Kriegsverlaufs erschweren Flüchtlingsmanagement
Die Unwägbarkeit, ob Moskau eine begrenzte Militäroperation durchführt oder einen Angriff fortsetzt, der das gesamte ukrainische Territorium in Mitleidenschaft ziehen wird, erschwert es humanitären Hilfsorganisationen und Experten, Notfallpläne zu erarbeiten. Entsprechend sollten EU, USA und internationale Organisationen Staaten, die den Flüchtlingsstrom zu bewältigen haben, finanziell unterstützen. Denn ein erfolgloses Flüchtlingsmanagement könnte die Thematik für europäische Länder längerfristig akut werden lassen. Einige EU-Länder behaupten, Russland habe die Flüchtlingskrise von 2015 als politische Waffe instrumentalisiert und sogar migrationsfeindliche rechtsextreme Parteien unterstützt, um die politische Debatte in Europa anzufachen. Es scheint durchaus im Bereich des Möglichen, dass ein ähnliches Prozedere auf dem Rücken der ukrainischen Flüchtlinge ausgetragen werden könnte.