EU-Türkei: Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück
Beim Gipfel des Europäischen Rats stand die neue Türkeipolitik im Fokus. Allerdings offenbarte das Ergebnis, dass die EU weder über eine gemeinsame Flüchtlings- bzw. Syrienpolitik geschweige denn eine gemeinsame Türkeipolitik verfügt.
(AP)

Während syrische Flüchtlinge die Spaltung innerhalb der Mitgliedstaaten der EU teils mit ihrem Leben bezahlen müssen, verhindert die politische Einstellung Griechenlands und des griechischen Teil Zyperns die Entwicklung einer Win-Win-Beziehung zwischen der Türkei und den restlichen Mitgliedstaaten. Die syrischen Flüchtlinge und die Türkei bezahlen letztlich den Preis für die Brüche und Auseinandersetzungen innerhalb der EU. Dabei zwang die Weigerung der EU, ihrer Verantwortung in der Flüchtlingsfrage nachzukommen, die Türkei zu harten Maßnahmen, um die europäische Öffentlichkeit auf die Situation aufmerksam zu machen.

Eine Beziehung unter Gleichen

Der gegenwärtige Stand der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei übersteigt schon längst den Rahmen von Beitrittsverhandlungen. Es wird offensichtlich, dass realpolitische Erwägungen und auch Auseinandersetzungen die neue Basis der Beziehungen bilden. Auch wenn die EU als vermeintliche Werteunion in puncto Menschenrechte, Demokratie und ähnlichen Überschriftenversucht, die Türkei unter Druck zu setzen und zu kontrollieren, nimmt doch kaum jemand mehr diese Einwürfe ernst. Kommen einem doch beim Thema Menschenrechte die von griechischen Grenzschutzbooten versenkten Boote von Flüchtlingen vor Augen oder beim Thema Rechtsstaatlichkeit die willkürliche Aussetzung des europäischen Asylrechts, um die Migration von Flüchtlingen nach Europa zu unterbinden.

So ist das Unvermögen der EU, eine neue Türkeipolitik zu formulieren, auch nur teilweise den Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Mitgliedstaaten geschuldet, denn es offenbaren sich tiefgreifende strukturelle Probleme. Man betrachtet fälschlicherweise die Türkei nach wie vor mit einer von den Zeiten des Kalten Krieges geprägten antiquierten Haltung als Vorposten zum Schutz eigener politischer Interessen. Europa vermag es angesichts sich wandelnder internationaler Machtverhältnisse nicht, der Türkei auf Augenhöhe zu begegnen und eine Beziehung unter Gleichen aufzubauen. Stattdessen beharrt man auf der alten Form der asymmetrischen Beziehung zwischen Europa und der Türkei.

Migration und wirtschaftliche Zusammenarbeit

Es sei daran erinnert, dass das Abkommen vom 18. März nicht nur die Flüchtlingsfrage beinhaltete. Vielmehr sah das Abkommen mit einer Revision der Zollunion und der Visafreiheit für türkische Staatsbürger Verpflichtungen seitens der EU vor. Leider hat die EU ihre Versprechen nicht eingehalten und sich damit begnügt, finanzielle Unterstützung zu leisten. Auch ist die versprochene Lastenverteilung ausgeblieben, sodass die Türkei ihre Unterstützung der Flüchtlinge fortgesetzt hat und selbige auch weiter beherbergt. Die Türkei hat bei der Migrationsthematik ihre Lehren hinsichtlich der EU gezogen. In diesem Sinne erwartet Ankara im Lichte der bisherigen Erfahrungen eine Erneuerung des Abkommens und eine Reform der Inhalte, die nachweislich nicht funktioniert haben. Und dass sie nicht funktionieren, ist offensichtlich. So vollzieht sich der Transfer der zugesagten 3+3 Milliarden Euro für Projekte im Bereich der Flüchtlingshilfe bedenklich langsam. Auch verursacht die derzeitige Selbstverwaltung der für die Flüchtlinge vorgesehenen Mittel durch die EU vor Ort ernsthafte Probleme. Die eingesetzten EU-Mittlerorganisationen kennen die Verhältnisse in der Türkei nicht besonders gut und haben mit ihren überbordenden Verwaltungskosten Schwierigkeiten, ihre Klientel, also die Flüchtlinge, zu versorgen. Anstatt ihre Expertise mit türkischen und syrischen NGOs zu teilen und diese zu stärken, verlieren sich diese in ihrem bürokratischen Hamsterrad. Darüber hinaus verlangsamt der Ansatz der EU, die vorgesehenen Mittel mit der Logik von IPA-Aufbaufonds zu verwalten, Prozesse vor Ort. Deshalb sollten bei der Erneuerung des Abkommens in der Flüchtlingsfrage verantwortungsbewusste türkische Einrichtungen bei der Formulierung etwaiger Pflichten auch mit Befugnissen ausgestattet werden. Auch sollten bei der Verwaltung der Fonds türkische Einrichtungen eine größere Rolle spielen und Geldmittel gemeinsam gesteuert werden. Abstand zu nehmen ist in diesem Sinne von der Taktik, einerseits auf dem Papier vorgeblich Mittel zur Verfügung zu stellen, gleichzeitig aber mit bürokratischen Hürden Projekte zu verlangsamen, um keine neuen Mittel bereitstellen zu müssen.

Die schon seit längerem von der Türkei im Rahmen eines Rückkehrplans zur Sprache gebrachte Sicherheitszone sollte von der EU sowohl politisch als auch logistisch unterstützt und die Verwendung von Mitteln hierfür ermöglicht werden. Die Flüchtlingsproblematik hat ihren Ursprung nicht in der Türkei und wird dort auch nicht ihr Ende finden. Bei der Sicherung der Außengrenzen, der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Unterbindung illegaler Flüchtlingsströme sind die EU und die Türkei zur Zusammenarbeit gezwungen. Denn die Grenzen der Türkei bilden die Ostgrenzen der EU, und deren Absicherung ist existenziell für die gesamte EU. Genau aus diesem Grund müssen die Bemühungen der Türkei, Stabilität an ihrer Grenze und in Syrien zu gewährleisten, unterstützt werden.

Der Türkei erwächst mit der Belastung, die von der Migration ausgeht, auch eine Verpflichtung gegenüber ihren eigenen Bürgern. In diesem Sinne müssen die hinsichtlich der Erneuerung der Zollunion und der Visafreiheit gemachten Versprechen endlich eingelöst werden.

Letztendlich musste man auf die berechtigten Forderungen der Türkei bezüglich der Zollunion seitens der EU reagieren. Gemäß den Ergebnissen des EU-Gipfels haben die Staats- und Regierungschefs grünes Licht für Verhandlungen zur Revision der Zollunion gegeben und auch eine Einladung für Gespräche zur Visafreiheit ausgesprochen. Betrachtet man die Türkei-Beschlüsse des Gipfels aus der Nähe, stellt man fest, dass die vordergründig wohlwollenden Schritte an Bedingungen geknüpft sind und bei Nichterfüllung selbiger diese auch wieder zurückgenommen werden können. Mit dieser Taktik von Zuckerbrot und Peitsche versucht die EU, Zeit gegenüber der Türkei zu schinden.

Die EU braucht eine neue Türkeipolitik

Europäische Politiker und Medien, die bei der Frage der Menschenrechte immer die Türkei beschuldigen, verschweigen ihrer eigenen Öffentlichkeit die Haltung und den Erfolg der Türkei in der Flüchtlingspolitik. Dabei widersprechen sich die einerseits postulierten Menschenrechte und Prinzipien des Rechtsstaates mit der Praxis, Flüchtlinge um jeden Preis, auch ihren Tod in Kauf nehmend, außerhalb der eigenen Grenzen zu halten. Dabei hat die Ablehnung von Flüchtlingen durch die 27 EU-Staaten nur politische und keine wirtschaftlichen Gründe. Denn die Länder mit den meisten Flüchtlingen, also Iran, Türkei und Libanon, sind wirtschaftlich nicht stärker als die EU. Erst dieser fehlende politische Wille innerhalb der EU-Mitglieder, mit Ausnahme von Deutschland, hat die Flüchtlingsfrage zu einer politischen Krise gemacht.

Der Gipfel des Europäischen Rats stellt für die Beziehungen mit der Türkei Wirtschaftsthemen in den Mittelpunkt. Dabei lässt sich die 60-jährige EU-Türkei-Geschichte weder auf die Flüchtlingsfrage noch auf Bereiche reduzieren, die der Türkei Lasten aufbürden. So hat die EU die Türkei-Frage ein weiteres Mal vertagt. Denn die Spannungen sind strukturell und auch politisch.

Die alte Türkeipolitik der EU war erfolglos, und es bedarf einer in jeder Hinsicht neuen Politik. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die vom politischen und medialen Mainstream verbreitete Kritik an einer Außenpolitik, die sich an türkischen Interessen orientiert, nicht etwa Regierungs- sondern Staatspolitik ist. Selbst wenn es zu Einigungen bei der Frage der Migration und der Wirtschaft kommen sollte, werden diese Kooperationen immer überschattet werden, wenn es nicht gelingt, das alte Problem der Begegnung auf Augenhöhe zu überwinden.

EU und Türkei sind sowohl sozial als auch wirtschaftlich eng miteinander verwoben. Diese traditionell tief verwurzelten Beziehungen brauchen eine stabile Zukunftsperspektive. So sollten bei der Pflege dieser Beziehungen rationale Erwägungen und eine Win-Win-Strategie zum Zuge kommen.

Ohne ein stabiles politisches Fundament zwischen der EU und der Türkei wird auch die Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage unvollendet bleiben. Auch wird es unmöglich sein, auf allen Politikfeldern nachhaltige Kooperationen zu entwickeln, wenn man auf Seiten der EU die Bemühungen der souveränen Türkei, eigene Interessen zu wahren, nicht respektiert.

Betrachtet man die bisherige Einstellung Europas, so ist vor dem Jahr 2023 realistischerweise keine große Türkei-Strategie zu erwarten, und die EU spielt gegenüber der Türkei weiterhin auf Zeit.

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