Berg-Karabach und die Niederlage Europas
Europa bekam im Berg-Karabach-Konflikt seine eklatanten Mängel in der Außenpolitik aufgezeigt. Sein passives Verhalten geht auf ein strukturelles Problem innerhalb der EU zurück. Die Karten in der internationalen Politik werden neu gemischt.
Autokorso durch Berlin: Aserbaidschaner feiern Befreiung von Berg-Karabach (AA)

Der Konflikt um Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan vor einem Jahr hat den abnehmenden Einfluss des Westens aufgezeigt. Der Westen ist lange nicht mehr so überlegen wie früher und muss allmählich akzeptieren, dass nicht nur globale Akteure wie Russland und China, sondern auch regionale Akteure wie die Türkei für eine neue Machtaufteilung in der internationalen Politik gesorgt haben.

Aserbaidschan gewinnt den Konflikt – Europa bleibt passiv

Als am 9. November 2020 die Stadt Schuscha seitens Aserbaidschans eingenommen wurde, wurde zeitgleich auch der Waffenstillstand zwischen Aserbaidschan und Armenien unterzeichnet. Zuvor hatte allen voran Frankreich als Mitglied der Minsk-Gruppe Armenien seine Unterstützung zugesichert. Es muss hier jedoch erwähnt werden, dass der Rest der europäischen Länder und selbst die USA keine aktive Rolle in diesem Konflikt gespielt haben.

Der Grund für die Passivität der europäischen Länder ist vielfältig. Die europäischen Länder hatten den regionalen Einfluss der Türkei und von Russland akzeptiert und wollten mit ihrer Nichtteilnahme am Konflikt keinen politischen Schaden in Bezug auf die beiden Länder anrichten. Auch die absolute militärische Überlegenheit Aserbaidschans gegenüber Armenien war ein Grund, nicht am Konflikt teilzunehmen.

Aus ökonomischer Sicht sollte hinzugefügt werden, dass zum Zeitpunkt des Konflikts die Transadriatische Pipeline (TAP), die über Griechenland, Albanien und das Adriatische Meer nach Süditalien führt, fertiggestellt wurde. Die TAP-Pipeline, die seit dem 31. Dezember 2020 in Betrieb ist, versorgt Europa mit zehn bis zwanzig Milliarden Kubikmeter Erdgas und soll die Abhängigkeit der europäischen Länder von Russland mindern. Die europäischen Länder wollten mit ihrer Nichtteilnahme das Pipelineprojekt nicht gefährden.

Als letzter Grund sollte die illegale Eroberung Karabachs durch Armenien genannt werden. Nach internationalem Recht gehört Karabach Aserbaidschan, und die europäischen Länder hatten dies mit ihrer Passivität akzeptiert, wenn auch nicht direkt und klar. Selbst Emmanuel Macron erkannte nach Beendigung des Konflikts die Zugehörigkeit von Karabach zu Aserbaidschan an.

Westen agiert nicht mehr konsistent

Der Bergkarabach-Konflikt hat gezeigt, dass der Westen mit Blick auf seine eigenen Interessen nicht geschlossen auftreten kann. In der Minsk-Gruppe war nur Frankreich als einziger Akteur aktiv, um westliche Interessen zu vertreten. Die kaum vorhandene Unterstützung für Frankreich führte dazu, dass der Westen bei diesem Konflikt nur eine Randfigur war und die Türkei und Russland als regionale Mächte im Zentrum des Konflikts standen und auf eine Friedenslösunghinarbeiteten.

Der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien sollte nur eines von vielen Beispielen für den Westen sein, vor allem für Europa, bei denen er nicht mehr so einflussreich ist wie früher. Der Libyen-Konflikt und auch der Konflikt im östlichen Mittelmeer waren Ereignisse, bei denen Europa nicht die gewünschten Ergebnisse erzielen konnte. Dies hat vor allem damit zu tun, dass der Westen nicht mehr so geschlossen auftritt wie früher. Bei allen drei genannten Konflikten konnte man ein offensives Frankreich beobachten, das bereit war, militärisch zu handeln. Auf der anderen Seite konnte man Deutschland betrachten, das um Deeskalation bemüht war, um nicht die diplomatischen Beziehungen zu anderen Drittstaaten weiter zu gefährden. Das Verhalten der beiden führenden Mächte war widersprüchlich.

Innere Probleme behindern außenpolitisches Handeln

Das inkonsistente Verhalten Europas kann mit mehreren Gründen erklärt werden. Dieses Problem besteht nicht erst seit jüngster Zeit. Die Irak-Krise 2003 dient als gutes Beispiel, bei dem Europa innere Spannungen erlebte. Frankreich und Deutschland hatten sich mit Russland gemeinsam gegen Großbritannien und den USA gestellt. Diese Krise sollte weitreichende Folgen haben. Das Vertrauen war gebrochen, und auch die osteuropäischen Länder waren den USA näher als den EU-Führungsländern Frankreich und Deutschland.

Die Eurokrise 2010 sollte die Stabilität innerhalb der EU erstmals ernsthaft in Gefahr bringen. Der darauffolgende Ukraine-Russland Konflikt 2014 zeigte, dass die EU-Staaten nicht in der Lage sind, einen potentiellen Partner zu unterstützen und für Stabilität in ihrer eigenen Region zu sorgen. Die Flüchtlingskrise 2015 ist ein weiterer Beweis dafür, dass die EU nicht in der Lage ist, ihre eigenen Probleme ohne Hilfe anderer Drittstaaten, in diesem Fall derTürkei, zu lösen. Der Brexit 2016 sollte der erste große Bruch in der EU sein, der sie als angehender globaler Akteur äußerst geschwächt hat. Ähnlich könnte es mit Ungarn oder auch Polen verlaufen.

Passivität Europas ein strukturelles Problem

Die aufgezählten Ereignisse sind keine Zufallsprodukte, sondern beruhen auf einem strukturellen Problem. Unter den EU-Mitgliedstaaten gibt es mehrere konfligierende Interessen, die zu einer verstärkten Behäbigkeit im außenpolitischen Handeln führt. Beim östlichen Mittelmeer-Konflikt beispielsweise bekam Frankreich nicht die gewünschte Unterstützung seitens der EU und handelte deswegen eher im nationalen als im europäischen Interesse. Auch beim Libyen-Konflikt konnte man ähnliche Probleme beobachten.

Der Berg-Karabach-Konflikt sollte die eklatanten Missstände der EU deutlich aufzeigen. War man in Libyen und im östlichen Mittelmeer noch um Schadensbegrenzung in Form von diplomatischen Gesprächen bemüht, musste die EU ihre Unterlegenheit bei diesem Konflikt akzeptieren. Während der Konflikt noch anhielt, hatte die EU und vor allem Frankreich, trotz aktiver Bemühungen, kein Mitspracherecht. Die EU ist an einen Punkt angekommen, an dem sie als angeblich angehender globaler Akteur ein passives Verhalten vorzieht, um beispielsweise nicht das Erdgas-Pipeline-Projekt mit Aserbaidschan zu gefährden. Deswegen ist die Befürchtung der Ukraine, dass die EU sie aufgrund des Nord-Stream 2 im Falle eines Konflikts mit Russland nicht unterstützen wird, durchaus legitim.

Die Passivität Europas führt nicht umsonst zu einer Abkehr von mehreren Drittstaaten. Die Ukraine und Polen haben damit begonnen, Drohnen aus der Türkei zu importieren, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. Bei Polen droht sogar der „Polexit“, falls die Spannungen mit der EU so weiterlaufen. Und auch andere Drittstaaten wie die Türkei führen eine stetig stärker unabhängige Außen- und Sicherheitspolitik. Mit dem Verkauf von Drohnen ins Ausland und Militäreinsätzen unterstreicht die Türkei ihren Anspruch als Regionalmacht. Die EU ist dagegen aufgrund von inneren strukturellen Problemen und konfligierenden Interessen unter den Mitgliedstaaten zum Zuschauen verdammt, statt eine aktive Rolle in der internationalen Politik zu übernehmen.

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