Ampel steht auf rot – Druck auf Scholz steigt
SPD und Grüne haben sich mit ihren historisch schlechten Ergebnissen bei der Europawahl in eine missliche Lage katapultiert. Wie geht es weiter in Deutschland? Was bedeutet der Rechtsruck für Europa?
Bundeskanzler Olaf Scholz / Photo: DPA (DPA)

Nach dem deutlichen Erfolg der französischen Rechtspopulisten bei der Europawahl hat Staatspräsident Emmanuel Macron die Auflösung der Nationalversammlung beschlossen und vorgezogene Neuwahlen angesetzt. Laut einer Ankündigung Macrons vom Sonntagabend sollen die Wahlen für das französische Parlament bereits am 30. Juni stattfinden.

Bei der Europawahl erzielte die rechtspopulistische Partei Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen laut Hochrechnungen etwa 32 Prozent der Stimmen, während die Liste Renaissance des pro-europäischen Regierungslagers lediglich rund 15 Prozent erreichte – knapp gefolgt von den Sozialisten mit ca. 14 Prozent.

Misstrauensvotum gegen die Ampel

In Deutschland ist die Union (CSU/CSU) mit Abstand die stärkste Kraft geworden (30 Prozent). Das bedeutet einen leichten Zugewinn von 1,1 Prozent gegenüber der vergangenen Europawahl von 2019. Das Wahlergebnis bedeutet für die Parteien der Ampel-Koalition eine große Niederlage. Einige Kommentatoren sehen das Wahlresultat sogar als ein „Misstrauensvotum gegen die Ampel“.

Alle drei Parteien haben Stimmen verloren, besonders die Grünen und die SPD (-1,9 Prozent). Die Sozialdemokraten erzielten ihr schlechtestes Ergebnis (13,9 Prozent) bei einer Europawahl. Die Grünen (-8,6 Prozent) verloren von allen angetretenen Parteien die meisten Stimmen und kommen nur noch auf 11,9 Prozent.

Forderungen nach Neuwahlen in Deutschland

Nach der dramatischen Wahlniederlage der Ampel-Parteien werden vor allem in Unionskreisen Forderungen nach einer Neuwahl oder der Vertrauensfrage laut: In der ZDF-Sendung „Europawahl 2024“ erklärte CSU-Chef Markus Söder: „Fakt ist: Die Ampel ist abgewählt. Und ähnlich wie Macron Neuwahlen ausruft, müsste das jetzt Olaf Scholz machen, oder wie es damals Gerhard Schröder gemacht hat. Deswegen klare Forderung: Jetzt Neuwahlen in Deutschland.“ CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte von Bundeskanzler Scholz, die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen.

Durch die Vertrauensfrage kann der Bundeskanzler feststellen, ob er weiterhin die Unterstützung der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten genießt. Sollte der Antrag keine Mehrheit finden, kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag auflösen und Neuwahlen anberaumen.

Nachdem bereits Neuwahlen in Frankreich angesetzt wurden und auch der belgische Premierminister Alexander De Croo Konsequenz aus dem Ergebnis der zeitgleich mit der Europawahl abgehaltenen föderalen Parlamentswahlen gezogen hat und zurückgetreten ist, dürfte in den kommenden Tagen und Wochen der Druck auf die Ampel-Koalition im Allgemeinen und auf Kanzler Scholz im Besonderen weiter steigen.

AfD und BSW mit großen Stimmgewinnen

Zu den Wahlsiegern des Abends gehörte neben den Unionsparteien die AfD (+4,9 Prozent), die kräftig zulegen konnte und mit 15,9 Prozent nun die zweitstärkste Kraft in Deutschland ist. In Ostdeutschland liegt die rechtspopulistische Partei sogar an erster Stelle. Trotz der Skandale um die AfD (Geheimtreffen in Potsdam, Affären um die Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron) kann das Abschneiden der Rechtsextremisten als „Rückenwind“ oder „Sprungbrett“ für die bevorstehenden ostdeutschen Landtagswahlen im September gedeutet werden.

Für eine Überraschung sorgt das Anfang des Jahres von mehrheitlich aus Abweichlern der Linkspartei gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Die als linkskonservativ beschriebene Partei, deren manche Positionen teilweise mit der AfD übereinstimmen, errang aus dem Stand beachtliche 6,2 Prozent.

Enttäuschung für DAVA und BIG

Die größtenteils von deutschen Einwanderern gegründete Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch (DAVA) kam laut vorläufigen Ergebnissen auf insgesamt 148.724 Stimmen (0,4 Prozent). Die Hoffnung der DAVA mindestens einen Abgeordneten nach Brüssel und Straßburg zu schicken, erfüllte sich somit nicht.

Auch das Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit (BIG), das mehrheitlich von Migranten gegründet wurde, enttäuschte mit nur 31.141 Stimmen (0,1 Prozent). Die Partei verlor mehr als die Hälfte ihrer Stimmen, die sie noch 2019 (68.647) erhalten hatte.

Angesicht dieser Ergebnisse wären Deutsche mit Migrationshintergrund in den etablierten Parteien vielleicht besser aufgehoben. Doch nicht wenige beklagen, dass sie in diesen Parteien aufgrund ihrer Identität ausgegrenzt und marginalisiert würden.

Welche Herausforderungen jetzt auf Europa zukommen

Zu gravierende Veränderungen, wie manche Analysten es sich ausmalen, wird es durch den maßvollen Rechtsruck in Europa wohl nicht kommen. Skeptische Stimmen befürchten, dass Brüssel gezwungen sein wird, die faktische Bedeutungslosigkeit der EU-Asylverträge, darunter die Dublin-Verordnung, anzuerkennen. Dies würde unweigerlich eine erneute Debatte über die Neuverhandlung des Asylpakets nach sich ziehen.

Andere pessimistische Analysen gehen davon aus, dass es innerhalb der EU wieder zu dauerhaften Grenzkontrollen kommen könnte, falls es an den EU-Außengrenzen weiterhin angespannt bleibt. Das Schengen-Abkommen wäre damit Geschichte.

Zudem sorgen sich manche Kommentatoren um die ablehnende Haltung der rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien bezüglich der finanziellen und materiellen Unterstützung für die Ukraine im Kampf gegen Russland. Aber auch in dieser Frage werden sich die Hardliner innerhalb der rechten Bewegungen nicht durchsetzen können.

Von der Leyen in der Zwickmühle: Für welche Partner entscheidet sich die EVP?

Die Richtung der EU wird hauptsächlich vom Europäischen Rat bestimmt – und dieser bleibt von der Europawahl zunächst unberührt. Im Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, haben die Parteien des Mitte-Rechts-Bündnisses EVP derzeit 13 Mitglieder und bilden damit das größte Lager. Auch im Europaparlament bleibt die EVP die deutlich stärkste politische Kraft.

Selbst wenn alle rechten Parteien sich zusammenschließen würden, würden sie voraussichtlich weniger als 200 der künftig 720 Sitze erreichen und könnten somit keine Mehrheit bilden. Das heißt, dass EVP-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen theoretisch keine Stimmen aus dem rechten Lager benötigt, um wieder zur Präsidentin der EU-Kommission gewählt zu werden.

Allerdings wäre die EVP auf die Kooperation mit den Sozialisten und Sozialdemokraten (S&D) sowie den Grünen angewiesen. Doch gibt es hier die Befürchtung, dass sich die EVP anstatt dem linken und grünen Block viel eher den rechten Kräften, darunter Italiens faschistische Regierungschefin Giorgia Meloni von der Fratelli d’Italia, zuwendenden könnte. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen pflegt schon länger ein vertrautes Verhältnis zu Meloni, die nun in der Position der Königsmacherin steht.

Es wird von der Leyen freuen, dass Meloni die Sanktionen gegen Russland sowie die Unterstützung für die Ukraine mitträgt und andere rechte Parteien wie die AfD ablehnt. Von der Leyen rechtfertigte sich vergangene Woche auf die Frage zur Kooperation mit der Neo-Faschistin: „Sie ist ganz klar proeuropäisch, gegen Putin und pro Rechtsstaat“. Dem linken Lager im EU-Parlament dürfte diese konfliktäre Zusammenarbeit überhaupt nicht gefallen.

Die Europawahl hat gezeigt: Die nächsten Wochen und Monate dürften sowohl in Deutschland als auch im restlichen Europa für Überraschungen sorgen. Die EU steht vor turbulenten Zeiten.

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