Füzuli (etwa 1485 bis 1556) war nicht nur einer der bedeutendsten Dichter Aserbaidschans, sondern des islamischen Orients und der Weltliteratur. Seine Werke gelten als Höhepunkte der als „Diwan-Literatur“ bekannten klassischen islamischen Dichtung. Unter anderem zählt Füzuli zu den wenigen orientalischen Poeten, die das Kunststück vollbrachten, in allen drei großen Islamsprachen (Arabisch, Persisch, Türkisch) jeweils einen kompletten Diwan zu hinterlassen – eine jeden Buchstaben des Alphabets als Reim beinhaltende Gedichtsammlung. Zu seinen bekanntesten Werken gehört die 1536 vollendete Verserzählung „Leyli und Madschnun“.
Das Sujet dieser tragischen Liebesgeschichte übernahm Füzuli aus dem reichen Schatz der orientalischen Erzähltradition. Die Handlung lässt sich auf altarabische Liebesdichtungen vor der ersten Jahrtausendwende zurückverfolgen, erhielt ihre wohl wirkungsmächtigste Fassung jedoch durch den aus der aserbaidschanischen Stadt Gändschä stammenden persischen Dichter Nezami (1141-1209). Die Bearbeitung Neẓamis wiederum beeinflusste Füzuli stark.
Universell-menschliche Handlung
Auch wenn Füzulis Leyli und Madschnun wie seine altarabischen Vorbilder und Neẓamis Version im Milieu der altarabischen Beduinen spielt, ist das Wesentliche der Handlung universell menschlich. Denn es geht um Themen, die für jegliche menschliche Gesellschaft zu allen Zeiten von essenzieller Bedeutung sind. Dazu gehören Liebe, Tod, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie menschliche Phantasie und Wirklichkeit.
Der Plot in Kurzfassung: Im alten Arabien verliebt sich ein Beduine in die wunderschöne Leyli. Leylis Familie weigert sich jedoch, einer Hochzeit zwischen den beiden zuzustimmen. Der junge Stammesmann flieht daraufhin in die Wüste, wo man ihn fortan nur noch als „den von einem Dschinn Besessene“ beziehungsweise „Verrückten“ – das ist die wörtliche Bedeutung von Madschnun – kennt. Madschnuns Vater versucht währenddessen, seinen liebestollen Sohn zu retten, indem er bei Leylis Familie weiterhin um deren Hand anhält – vergeblich. Am Ende fällt Madschnuns Clan nur noch eine mögliche Lösung ein: Sie schicken ihren Sohn zur Kaaba nach Mekka. Die Präsenz am heiligen Ort soll ihn von seiner Liebeskrankheit heilen. Doch auch dieser Rettungsversuch scheitert, denn in Mekka bittet Madschnun, der seinem Namen alle Ehre macht, Allah keineswegs darum, ihn von seiner fatalen Liebe zu Leyli zu kurieren, sondern im Gegenteil seine Liebesleiden noch zu vermehren. Unterdessen wird Leyli von ihrer Familie an einen anderen Kandidaten zwangsverheiratet. Doch dieser Gatte stirbt schon bald, und zwar auch deshalb, weil Leyli in ihrem Geist ausschließlich Madschnun liebt. Nach einer Reihe hochdramatischer Peripetien kommt es schließlich dazu, dass sich Leyli und Madschnun in der Wüste begegnen. Doch auch jetzt gibt es kein Happy End. Statt endlich der leiblichen, irdischen Vereinigung mit Leyli zuzustimmen, weist der „Verrückte“ sie zurück. Der Grund ist, dass er fürchtet, die reale Leyli könnte nicht jenem perfekten Idealbild entsprechen, das er sich in all den Jahren von ihr gemacht hat. Leyli ist über die Zurückweisung so schockiert, dass sie vor Kummer stirbt. Am Ende bricht auch Madschnun über ihrem Grab tot zusammen.
Tiefenpsychologisch ist an der aus der Welt der altarabischen Beduinen – die letzten Endes auch den Koran hervorgebracht hat – stammenden Erzählung unter anderem die Verwurzelung der Ursache der Tragödie im menschlichen Bewusstsein interessant. Auch wenn alle möglichen gesellschaftlichen Faktoren – vor allen Dingen die traditionelle Einstellung der Clanwelt zur Ehe – eine Rolle spielen, hat der eigentliche Grund, aus dem die Tragödie sich vollzieht, nichts mit äußeren Einwirkungen zu tun, sondern basiert auf der freien Entscheidung Madschnuns. Es sind sein Wunsch, sein Wille und seine Vorstellung vom reinen Ideal der Leyli, die jegliche Auflösung der Spannung in der materiellen Welt für immer und aus Prinzip verhindern. Letzten Endes enthält die Liebestragödie Leyli und Madschnun mit ihrem scheinbar so irdischen Thema also eine tiefe mystische und religiöse Dimension. Es geht auch darum, dass die Bewahrung des geistigen Ideals immer mit der Zerstörung des irdischen Glücks einhergehen muss. Nur im Tod kann Vereinigung möglich sein.
Die Geschichte findet ihren Weg in die Moderne
Die Geschichte von Leyli und Madschnun wurde auch nach Füzuli immer wieder aufgegriffen, nacherzählt und umgedichtet. Eine für die Entwicklung der aserbaidschanischen Literatur und Musik folgenreichsten Rezeptionen des klassischen Stoffs fand Ende des 19. Jahrhunderts statt. Sie ist eng verbunden mit den Namen eines der bedeutendsten aserbaidschanischen Dramaturgen, Schriftstellers und Publizisten jener Zeit, Abdurrahim bey Hagverdiyev (1870-1933), des Erfinders der aserbaidschanischen und islamischen Oper, Useir Gadschibekow (1885-1948) sowie mit dem kulturellen Zentrum Karabachs, Schuscha.
1897 und/oder 1898 (die Angaben der Sekundärliteratur sind an diesem Punkt nicht eindeutig) organisierte Hagverdiyev, der auch an der Musik großes Interesse hatte, in Schuscha eine szenische Aufführung, die den tragischen Schluss von Füzulis Leyli und Madschnun thematisierte. Die Darbietung hieß Madschnun auf dem Grab Leylis (Madschnun Leyli´nin mezarı üstünde). An der Vorstellung nahmen unter anderem der berühmte Interpret Sadigjan (1846-1902) am tar (einem traditionellen Saiteninstrument der aserbaidschanischen Kunstmusik) und der nicht weniger bekannte Sänger Cabbar Qaryağdıoğlu (1861-1944) teil. Bei den Vorführungen gab es außerdem einen Chor. In diesem wirkte ein damals etwa zwölfjähriger Junge namens Useir Gadschibekow mit.
Von der Aufführung „Madschnun Leyli´nin mezarı üstünde“ sind weder Noten noch ein Text erhalten. Dass es keine Noten gibt, kann nicht überraschen, da das Fixieren aserbaidschanischer Musik mit Noten erst wenig später von Gadschibekow eingeführt wurde, abgesehen davon, dass die Darbietungen von 1897 oder 1898 aller Wahrscheinlichkeit nach dem traditionellen Usus entsprechend teilweise improvisiert worden sein dürften. Das Fehlen eines Textes wird teilweise dadurch wiedergutgemacht, dass der Inhalt der Szene natürlich aufgrund des Bezugs zu Füzulis Leyli und Madschnun und durch das spätere Werk Gadschibekows sowie Äußerungen von ihm und anderen Zeitgenossen in seinen wesentlichen Zügen bekannt ist. Auch wenn sich die Details der Aufführung also nicht mehr vollständig rekonstruieren lassen, kann man wohl sagen, dass genau diese Aufführung in Schuscha, oder genauer gesagt, die Mitwirkung des zwölf- oder dreizehnjährigen Useir Gadschibekow an ihr, ein Wendepunkt der aserbaidschanischen Musikgeschichte war.
Denn nach allgemein geteilter Ansicht wurde „Madschnun Leyli´nin mezarı üstünde“ für Useir Gadschibekow zum entscheidenden Anstoß, um auf Basis des Füzuli-Stoffs die erste Oper der islamischen Welt zu schreiben und aufzuführen.
Erste Oper der islamischen Welt
Am 12./25. Januar 1908 hatte Gadschibekows Oper Leyli und Madschnun, deren Handlung die Dichtung Füzulis mehr oder weniger getreu übernimmt und in die auch einige Gedichte Füzulis im Original eingebaut sind, im Theater des Ölmillionärs und Mäzens Hadschi Zeynalabdin Taghiyev (1838-1924) in Baku Weltpremiere. Danach war in der aserbaidschanischen Musiklandschaft nichts mehr so wie vorher.
Gadschibekow schuf danach noch weitere Opern und musikalische Lustspiele, die er zu einem großen Teil in der Zeit vor der Oktoberrevolution mit seiner eigenen Operntruppe aufführte. Außerdem komponierte er noch zahlreiche weitere Musikstücke. Was Gadschibekows musikalisches Werk einzigartig macht, ist nicht allein sein Pioniercharakter, sondern die methodologische und theoretische Stringenz, mit der er klassische aserbaidschanische und klassische westliche Musik miteinander verband. Denn Gadschibekow war nicht nur ein bahnbrechender Komponist, sondern ein ebenso genialer Musikwissenschaftler. Insbesondere im ebenfalls von ihm geschaffenen Genre der Mugham-Oper verband er die traditionelle aserbaidschanische Kunstmusik (muğam) mit klassisch-westlichen Formen wie Arie und Rezitativ.
Leyli und Madschnun markiert so gesehen den Beginn einer bis heute lebendigen, weltweit einzigartigen aserbaidschanischen Musiktradition, in der Östliches und Westliches zu neuer Ausdruckskraft verschmolzen. An der in Aserbaidschan bis heute zum Standardrepertoire gehörenden Oper lässt sich ablesen, wie ein aus der altarabischen Literatur stammender Stoff durch die Jahrhunderte seinen Weg nach Aserbaidschan fand, wo er, unter anderem in Schuscha und Baku, durch das Genie Gadschibekows in einer künstlerischen Synthese östlicher und westlicher literarischer und musikalischer Elemente wiederbelebt wurde.