Neue Impulse für deutsch-türkische Handelsbeziehungen durch BRICS?
Türkiye strebt eine BRICS-Mitgliedschaft an, die neue wirtschaftliche und geopolitische Chancen eröffnen soll. Welche Folgen hätte das für Türkiye als strategisches NATO-Mitglied? Und könnte auch Deutschland davon profitieren? Eine Analyse.
Neue Impulse für deutsch-türkische Handelsbeziehungen durch BRICS? / Foto: TRT (Others)

Von Selim Çalık

Russische Agenturen hatten vor kurzem bekanntgegeben, dass Türkiye den Wunsch einer BRICS-Mitgliedschaft habe. Auf Anfrage in einer Pressekonferenz am 03.09. bestätigte der Regierungssprecher Ömer Çelik dieses Vorhaben. „Unser Präsident hat zu verschiedenen Zeiten erklärt, dass wir ein Mitglied (der Brics) sein wollen. Unsere Forderung in dieser Angelegenheit ist klar. Der Prozess ist in diesem Rahmen im Gange, aber es gibt noch keine konkreten Entwicklungen“, sagte Çelik in der türkischen Hauptstadt Ankara.

Mit seinem Interesse an einer Mitgliedschaft in der BRICS-Vereinigung (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) hat Türkiye einen strategischen schritt gemacht – solch eine Entscheidung, hätte sowohl geopolitische als auch wirtschaftliche Folgen. BRICS bestand ursprünglich aus den Ländern Brasilien, Russland, Indien und China. 2010 trat Südafrika der Vereinigung bei. Zu Jahresbeginn wurde die Gruppe schließlich um Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate erweitert (BRICS+). Die jetzigen BRICS-Mitgliedstaaten repräsentierten im Jahr 2023 insgesamt fast 45 Prozent der Weltbevölkerung und erwirtschafteten knapp 35 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung.

Balance zwischen NATO und BRICS: Ein komplexer geopolitischer Spagat

Türkiye war schon immer ein strategischer Akteur an der Schnittstelle von Europa und Asien. Ankaras Mitgliedschaft in der NATO und seine Rolle als Brücke zwischen dem Westen und dem Nahen Osten haben es zu einem unverzichtbaren Partner in internationalen Angelegenheiten gemacht. Doch mit der Interessensbekundung für eine Mitgliedschaft in der BRICS signalisiert Ankara eine geopolitische Neuausrichtung. Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte, dass Türkiye eine „win-win“-Strategie verfolge, bei der es sowohl von seinen westlichen als auch von den aufstrebenden östlichen Partnerschaften profitieren wolle. Außerdem betonte Erdoğan, dass „Türkiye nur ein starkes, wohlhabendes, angesehenes und leistungsfähiges Land werden kann, wenn es gleichzeitig seine Beziehungen zum Osten und zum Westen verbessert.“

Präsident Erdoğan beim NATO-Gipfel (AA)

Trotz der engen Beziehungen zu Russland und China, zwei der führenden BRICS-Mitglieder, betont Türkiye, dass es seine Verpflichtungen gegenüber der NATO und den westlichen Verbündeten nicht aufgeben will. Dies stellt jedoch einen heiklen Balanceakt dar. Türkiye könnte in der Lage sein, von den wirtschaftlichen und geopolitischen Vorteilen beider Organisationen zu profitieren.

Zwischen den Fronten: Türkiye, NATO, BRICS und der stagnierende EU-Beitritt

Der blockierte EU-Beitrittsprozess hat Ankara dazu veranlasst, alternative Vereinigungen wie die BRICS in Betracht zu ziehen. Der türkische Außenminister Hakan Fidan hat neulich diesen Kurswechsel angekündigt, indem er die mangelnde Integration in die EU kritisierte. Fidan betonte, dass ein erfolgreicher EU-Beitritt Türkiye möglicherweise nicht in die Lage versetzt hätte, nach anderen Partnerschaften zu suchen. Die Annäherung an BRICS kann daher als Zeichen einer strategischen Neuausrichtung interpretiert werden.

Gleichzeitig bietet die BRICS-Mitgliedschaft Türkiye geopolitische Flexibilität, da es die Beziehungen sowohl zu westlichen als auch zu östlichen Staaten ausbalancieren kann. Türkiye positioniert sich zunehmend als Vermittler zwischen diesen Machtblöcken, was seine strategische Bedeutung als Brücke zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten verstärkt. Dieser Aspekt wurde besonders im Rahmen der Getreidekrise zwischen der Ukraine und Russland deutlich. Mit der erfolgreichen Vermittlung und dem diplomatischen Geschick von Türkiye wurde das Getreideabkommen zwischen den beiden Ländern im Juli 2022 in Istanbul unterzeichnet. Damit konnte einer möglichen globalen Nahrungsmittelkrise vorgebeugt werden.

Getreideabkommen wird unterzeichnet. (Reuters)

Diese geopolitische Diversifizierung stärkt Türkiyes Position, birgt aber auch das Risiko, die Balance zwischen westlichen Verpflichtungen und östlichen Interessen zu verlieren. Trotz seines Interesse an einer BRICS-Mitgliedschaft sieht Türkiye die bestehende NATO-Mitgliedschaft als besonders wichtig an und will diese auch weiterhin fortführen.

BRICS als wirtschaftliche Chance: Wie Deutschland und Türkiye von neuen Märkten profitieren könnten

Neben den geopolitischen Implikationen bietet die mögliche BRICS-Mitgliedschaft von Türkiye erhebliche wirtschaftliche Chancen und könnte sowohl Türkiye als auch Deutschland den Zugang zu neuen Märkten in China, Indien, Russland und Brasilien eröffnen. Diese Länder stellen bedeutende Wachstumsregionen dar, insbesondere im Bereich Infrastruktur, Technologie und Energie​. China zählt zu den wichtigsten Handelspartnern Deutschlands. Eine BRICS-Mitgliedschaft von Türkiye könnte dazu beitragen, den Handel zwischen Deutschland und China weiter auszubauen.

Die Deutsch-Türkische Handelskammer (AHK) betont die potenziellen Vorteile dieser Partnerschaft. Ein Sprecher der AHK hob hervor, dass „BRICS für deutsche Unternehmen eine Plattform schaffen könnte, um in Kooperation mit türkischen Partnern Zugang zu den dynamischen Märkten der BRICS-Staaten zu erhalten.“ Er verwies auf die Bedeutung gemeinsamer Projekte im Infrastrukturbereich und auf den wachsenden Bedarf an technologischem Austausch in den BRICS-Ländern. „Für Deutschland und Türkiye eröffnet sich hier eine außergewöhnliche Chance, ihre wirtschaftlichen Beziehungen weiter zu vertiefen und gemeinsam von den aufstrebenden Märkten zu profitieren.“

Technologie und Innovation: China und Indien sind führend in technologischer Entwicklung. Laut dem Global Innovation Index 2023 belegt China Platz 12 und Indien Platz 40. Insbesondere China ist in Bereichen wie Künstlicher Intelligenz (KI) und Digitalisierung stark vertreten, während Indien in der Softwareentwicklung weltweit führend ist. Eine BRICS-Mitgliedschaft von Türkiye könnte deutschen Unternehmen einen besseren Zugang zu diesen dynamischen Märkten ermöglichen. Ein konkretes Beispiel ist die Türkiye AI Strategy 2021-2025, ein nationales Projekt, das Türkiye in Zusammenarbeit mit internationalen Partnern im Bereich KI und Digitalisierung stärken soll. Dieses Projekt könnte durch den BRICS-Kontext weitere internationale Kooperationen und Marktchancen ermöglichen.

Energiekooperation: Die BRICS-Länder, insbesondere Brasilien und Russland, spielen auch im globalen Energiemarkt eine entscheidende Rolle. Russland ist einer der weltweit größten Exporteure von Erdgas und Erdöl, während Brasilien im Bereich Biokraftstoffe führend ist. Türkiye hat bereits mehrere bedeutende Energieprojekte mit Russland im Energiebereich umgesetzt. Zu den wichtigsten Projekten gehört die TurkStream-Pipeline, die russisches Gas über Türkiye nach Europa transportiert. Angesichts der geopolitischen Spannungen durch den Ukraine-Krieg und der westlichen Sanktionen gegen Russland könnte Türkiye als „Gatekeeper“ für den Westen fungieren, indem es als zentrale Energie-Drehscheibe zwischen Russland und Europa agiert. Dies würde Türkiye nicht nur wirtschaftliche Vorteile verschaffen, sondern auch seine strategische Position auf der internationalen Bühne​ stärken.

Laut der Internationalen Energieagentur (IEA) könnten Deutschland und Türkiye von einer engeren Zusammenarbeit mit diesen Ländern profitieren, um die Energieversorgung zu diversifizieren und weniger abhängig von einzelnen Lieferanten zu sein. Ein relevantes Projekt ist der Eurasian Energy Hub, der darauf abzielt, Türkiye zu einem zentralen Transitland für Energieflüsse zwischen Europa und Asien zu machen. Diese Initiative könnte durch eine stärkere BRICS-Beteiligung ausgebaut werden.

Deutschlands Schlüsselrolle im Falle einer BRICS-Mitgliedschaft von Türkiye

Durch die starke türkische Diaspora in Deutschland existiert eine tiefe kulturelle und gesellschaftliche Verflechtung, die den Austausch zwischen beiden Ländern prägt und Deutschland zu einem natürlichen Vermittler macht. Diese Nähe ermöglicht es Deutschland, besser auf die Bedürfnisse und Ambitionen von Türkiye einzugehen und dessen Balance zwischen Ost und West zu unterstützen.

Scholz und Erdogan. (AA)

Wirtschaftlich ist Deutschland einer der wichtigsten Handelspartner von Türkiye. Diese wirtschaftlichen Verbindungen schaffen gegenseitige Abhängigkeiten, die Deutschland nutzen kann, um Türkiye dabei zu unterstützen, seine westlichen Wirtschaftsbeziehungen trotz einer stärkeren Integration in den BRICS-Rahmen zu bewahren. Deutschlands Position als wirtschaftliche und politische Führungsmacht in Europa verleiht ihm zudem Gewicht, um auf internationaler Ebene eine vermittelnde Rolle zwischen Türkiye und ihren westlichen Verpflichtungen zu spielen.

Eine geopolitische Vermittlerrolle von Türkiye bietet auch Deutschland direkte wirtschaftliche Vorteile. Eine festere Partnerschaft mit Türkiye könnte deutschen Unternehmen den Zugang zu neuen Märkten innerhalb der BRICS-Staaten wie China und Indien erleichtern, die sich zu wichtigen Technologie- und Investitionszentren entwickelt haben. Dies würde nicht nur die Handelsbeziehungen mit diesen aufstrebenden Volkswirtschaften stärken, sondern auch den Export deutscher Innovationen und Technologien fördern. Ein Beispiel hierfür ist das Unternehmen Siemens, das in Türkiye mehrere Produktionsstätten betreibt und mit dem türkischen Markt in Bereichen wie Infrastruktur und Digitalisierung eng kooperiert. Diese strategische Partnerschaft mit Türkiye hat Siemens ermöglicht, auch Märkte in Asien, insbesondere China und Indien, effizienter zu erschließen. Durch die technologische Expertise Deutschlands und die geopolitische Lage von Türkiye wird ein Synergieeffekt geschaffen, der den Export deutscher Technologien in aufstrebende Märkte erleichtert.

Ein weiterer wirtschaftlicher Vorteil könnte sich im Bereich der Energiewirtschaft ergeben. Türkiye könnte als Vermittler zwischen den Energieressourcen von BRICS-Ländern wie Russland und Brasilien und dem europäischen Markt fungieren. Dies wäre besonders relevant für Deutschland, das seine Energiequellen diversifizieren möchte, um die Abhängigkeit von bestimmten Lieferanten zu reduzieren. Deutsche Energieunternehmen wie RWE oder Uniper könnten von einer solchen Partnerschaft profitieren, indem sie ihre Energieversorgung sicherer und nachhaltiger gestalten würden.

Auch kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) aus Deutschland nutzen Türkiye zunehmend als Sprungbrett, um in die Märkte der BRICS-Staaten vorzudringen. Unternehmen aus dem Maschinenbau- und Automatisierungssektor haben Produktionsstätten in Türkiye eröffnet, um von dort aus Länder wie China und Indien zu beliefern. Die strategische Position von Türkiye als Schnittstelle zwischen Europa und Asien schafft hier einen klaren Wettbewerbsvorteil für deutsche Firmen.

Eine gestärkte Beziehung zu Türkiye könnte Deutschland helfen, seine Interessen in beiden Machtblöcken zu wahren. Die Stabilität innerhalb der NATO würde gefestigt, während neue wirtschaftliche Chancen durch die Erschließung der BRICS-Märkte und die gemeinsame Beteiligung an internationalen Projekten entstehen könnten. Durch konkrete Kooperationen könnte Deutschland nicht nur seine Handelsbeziehungen vertiefen, sondern auch seine globale wirtschaftliche und geopolitische Position stärken.

Zukunftsperspektiven: Deutschland und Türkiye in einer multipolaren Welt

Türkiye nimmt als geopolitischer Akteur eine zentrale Rolle zwischen Ost und West ein, was Deutschland sowohl wirtschaftliche Chancen als auch geopolitische Herausforderungen bietet. Durch die BRICS-Mitgliedschaft von Türkiye würden sich für deutsche Unternehmen neue Möglichkeiten eröffnen, insbesondere im Bereich Technologie, Energie und der Erschließung von Märkten wie China und Indien. Für Deutschland bietet sich zudem die Chance, seine wirtschaftliche Reichweite durch eine engere Zusammenarbeit mit Türkiye zu erweitern und seine Energiequellen zu diversifizieren. Türkiye könnte dabei als Vermittler zwischen Europa und den BRICS-Staaten agieren, was besonders für die deutsche Energieversorgung von Vorteil wäre.

Insgesamt könnte eine verstärkte Partnerschaft zwischen Deutschland und Türkiye, insbesondere im BRICS-Kontext, Deutschlands und Türkiyes globalen Einfluss stärken. Dies setzt jedoch eine kluge diplomatische Strategie voraus, um die Balance zwischen den Interessen des Westens und der aufstrebenden BRICS-Staaten zu wahren.


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