Schon bei der Begrüßung mit dem „lieben Wladimir“, wie Kanzlerin Angela Merkel den russischen Präsidenten Putin auch nennt, kommt sie rasch zur Sache. Es gebe „tiefgreifende Differenzen“, über die beide reden wollten. Aber trotz allem sollten Deutsche und Russen miteinander im Gespräch miteinander bleiben. Nur so könne es weitergehen, betont die Kanzlerin, die Putin seit 16 Jahren kennt. Sie spricht Russisch; er aus seiner Zeit als KGB-Geheimdienstoffizier in Dresden fließend Deutsch. Sie verstehen einander. Und doch haben sie sich nie etwas geschenkt. Auch in den etwa drei Stunden am Freitag im Großen Kremlpalast in Moskau nicht.
Freilassung von Alexej Nawalny gefordert
Genau am ersten Jahrestag des Giftanschlags auf den Kremlgegner Alexej Nawalny mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok ist die Kanzlerin das erste Mal seit langem wieder bei Putin. Sie habe „noch einmal die Freilassung von Alexej Nawalny gefordert und auch deutlich gemacht, dass wir hier an der Sache dranbleiben werden“. Putin kontert und behauptet, Nawalny sitze nicht wegen politischer, sondern wegen krimineller Handlungen in Haft. Die beiden wissen, dass sie in diesem Punkt nicht zueinander kommen. Bis heute lehnt Russland Ermittlungen in dem Fall ab. Nawalny macht Putin selbst verantwortlich für den Mordanschlag auf ihn. Die EU hat wegen des Giftanschlags auch Sanktionen gegen Russland verhängt.
Kritik an Arbeitsverbot von drei deutschen NGOs
Merkel kritisiert zudem das Arbeitsverbot von drei deutschen Nichtregierungsorganisationen. Wenn diese aus der russischen Liste unerwünschter Organisationen gestrichen würden, könne der Petersburger Dialog für die Zusammenarbeit der Zivilgesellschaften beider Länder wieder aufgenommen werden. Die deutsche Seite hat das Format eingefroren. Doch Russland bleibt hier seit langem hart. Und auch Putin macht einmal mehr deutlich, dass er Einmischungen und Belehrungen von außen nicht duldet. Trotzdem empfängt der Kremlchef die Kanzlerin, die zuvor am Grab des Unbekannten Soldaten mit einem Kranz an die Opfer des Zweiten Weltkriegs erinnert hat, im Großen Kremlpalast mit Blumen in Weiß und Rosa. Es ist eine Geste auch zum Abschied von ihrer Kanzlerschaft. Aber er weiß, dass Merkel nicht für Aufmerksamkeiten in Moskau ist. Es gibt reichlich Konfliktstoff, den beide besprechen.
Akute Terrorgefahr in Afghanistan bannen
Es geht auch um die Lage in Afghanistan, die Putin einmal mehr als Beispiel für ein Versagen des Westens sieht, wenn es darum geht, anderen Staaten etwa demokratische Werte beizubringen. Die Kanzlerin bekräftigt dagegen, dass es dem Westen mit seinem Einsatz gelungen sei, die von Afghanistan ausgehende akute Terrorgefahr zu bannen. „Aber sie ist nicht dauerhaft gebannt“, sagt sie in dem vor Gold nur so glänzenden Alexandrowski-Saal des Palasts. Und sie bittet um Unterstützung bei der Rettung afghanischer Ortskräfte. Putin wiederum ruft die Kanzlerin dazu auf, im Ukraine-Konflikt auf die Regierung in Kiew einzuwirken. Merkel reist an diesem Sonntag dorthin, um den ukrainischen Präsidenten zu treffen. Zur Freude des russischen Präsidenten bekennt sie sich zu dem Minsker Friedensplan zur Lösung des Konflikts im Osten der Ukraine. Dort sterben in den umkämpften Gebieten der Regionen Luhansk und Donezk trotz eines Waffenstillstands weiter Menschen. Merkel solle nun helfen dabei, dass die Ukraine die Vereinbarungen von Minsk erfüllt, sagt Putin. Der Präsident tut an diesem Freitag einiges, damit Merkel ihr womöglich letzter Besuch im Kreml in Erinnerung bleibt. Die Kanzlerin wird sich an Moskauer Empfänge mit deutlich weniger Prunk erinnern. Für russische Verhältnisse sind die Gespräche im prunkvollen Kremlpalast ein sehr achtungsvoller Abschied – auch wenn nicht klar ist, ob sich die beiden wirklich zum letzten Mal getroffen haben. Das Wort „Abschiedsbesuch“ verbindet die 67-Jährige mit „vielleicht“.
Trotz großer Differenzen Gesprächskanal immer offen gehalten
In ihrer Amtszeit hätten sich „die politischen Systeme von Deutschland und Russland noch einmal weiter auseinander entwickelt“, bilanziert Merkel und findet dennoch anerkennende Worte: „Aber ich bin sehr froh, dass es trotz auch großer Differenzen immer gelungen ist, diesen Gesprächskanal offen zu halten.“
Auch Putin entlässt Merkel mit freundlichen Worten: „Wir werden in Zukunft sehr froh sein, die Bundeskanzlerin in Russland empfangen zu dürfen. Wir haben großen Respekt vor ihrer Leistung.“ Merkel zähle „zu Recht zu den angesehensten Führungspersonen in Europa und international“. Beide seien zwar nicht immer einig gewesen, hätten aber „immer einen offenen und inhaltsreichen Dialog geführt“.
Anders als Merkel denkt Putin bisher nicht an einen Abschied aus dem Staatsamt. Nach mehr als 20 Jahren an der Macht kann er nach einer Verfassungsänderung im vergangenen Jahr im Fall seiner Wiederwahl 2024 und 2030 noch bis 2036 regieren.