von Murat Sofuoğlu
Sowohl die US-amerikanische als auch die israelische Führung haben in den vergangenen Tagen wiederholt betont, dass es keinen Unterschied zwischen der Hamas und der Terrorgruppe Daesh (ISIS) gebe.
US-Präsident Joe Biden sagte vergangene Woche, Washington könne nicht zulassen, dass „Terroristen wie die Hamas“ gewinnen. Diese Darstellung der palästinensischen Widerstandsgruppe Hamas wurde auch von US-Außenminister Antony Blinken wiederholt. Bei einer Pressekonferenz mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in Tel Aviv bezeichnete Blinken die Hamas als „Feind der zivilisierten Welt“.
Die USA, die Europäische Union und Großbritannien haben die Hamas als verbotene Organisation eingestuft. Analysten argumentieren jedoch, dass es der palästinensischen Gruppe vor allem um den bewaffneten Kampf gegen die illegale israelische Besatzung gehe. Im Gegensatz zu Daesh verfolge sie keine extremistischen Ambitionen.
Unterschiedliche Ideologien
Heiko Wimmen, Projektleiter für Irak, Syrien und Libanon bei der International Crisis Group, sagt, dass es keinen Sinn mache, Hamas und Daesh miteinander zu vergleichen. „Die Ideologien sind sehr unterschiedlich. Die Hamas ist eine nationale Befreiungsbewegung mit religiösem Hintergrund“, sagt Wimmen. „Die transnationale Ideologie ihrer Mutterbewegung, der Muslimbruderschaft, haben sie längst aufgegeben“, erklärt Wimmen dem Sender TRT World.
2017 distanzierte sich die Hamas von der Muslimbruderschaft – einer Bewegung ägyptischen Ursprungs mit Ablegern in mehreren arabischen Ländern. „Während die Hamas lokal verwurzelt ist und sich klar auf die palästinensische Befreiung konzentriert, versucht Daesh, nationale Grenzen zu verwischen“, sagt Wimmen.
Daesh ist eine multinational organisierte Gruppe, während die Hamas eine rein palästinensische Widerstandsorganisation ist, ähnlich der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die in den 1960er Jahren den bewaffneten Kampf aufgenommen hatte.
Israel wird von Gruppen wie der Hamas als kolonialistischer Siedlerstaat betrachtet. Die Hamas begann 1989 ihren bewaffneten Kampf gegen Israel, um einen unabhängigen Palästinenserstaat zu errichten. Es ist eine Idee, die auch von der internationalen Gemeinschaft im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung unterstützt wird.
„Besatzung nicht vom Recht auf Selbstverteidigung gedeckt“
Im Gegensatz zur Terrorgruppe Daesh, die Muslime gegen ihre Regierungen aufstachelte, will die Hamas staatenlose Palästinenser dazu bringen, sich ihrem Kampf gegen die israelische Besatzung anzuschließen. Die Hamas agiere nicht international und fördere nicht den internationalen Terrorismus wie es Daesh gemacht habe, sagt Ibrahim Moiz, ein politischer Analyst, der sich mit bewaffneten Bewegungen beschäftigt.
„Die Definition von Terrorismus ist die illegale Anwendung von Gewalt, um eine Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen, sie gegen ihre Regierung aufzubringen und einen Regimewechsel zu erleichtern. Israel und Daesh erfüllen diese Definition, die Hamas nicht", sagt Sami Hamdi, Nahostexperte und Direktor des politischen Nachrichtenmagazins The International Interest.
Israel sei nach internationalem Recht eine Besatzungsmacht, „was bedeutet, dass es sich in einer offensiven Position befindet und sich daher nicht auf Selbstverteidigung gegenüber den belagerten Palästinensern im Gazastreifen berufen kann“, erklärt er. Daher verstoße Israel mit seinen Angriffen gegen das Völkerrecht.
„Wenn man hinzufügt, dass die Gewalt darauf abzielt, die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen, um die Hamas zu stürzen, kann man argumentieren, dass eher Israel unter die Definition von Terrorismus fällt als die Hamas.“
Hamas ist nicht mit Waffengewalt an die Macht gekommen
Die Unterschiede zwischen Hamas und Daesh beschränken sich nach Ansicht von Wimmen nicht nur auf ideologische Differenzen. „Die Hamas hat an Wahlen teilgenommen und gewonnen, sie ist nicht mit Waffengewalt an die Macht gekommen. Daesh akzeptiert nicht einmal das Prinzip der politischen Repräsentation, geschweige denn Wahlen", sagt der in Beirut ansässige Analyst.
Die vergangenen Wahlen in Gaza fanden 2006 statt und endeten mit einem Sieg der Hamas über die PLO. Trotz des Wahlsiegs der Hamas weigerte sich die vom Westen unterstützte Fatah unter ihrem Anführer Mahmud Abbas, den Sieg der palästinensischen Gruppe anzuerkennen.
Dies führte zu innerpalästinensischen Machtkämpfen, in deren Verlauf die Hamas schließlich den Gazastreifen für sich beanspruchen konnte. Ähnlich wie die Al-Qassam-Brigaden der Hamas verfügt auch die Fatah mit den Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden über einen militärischen Arm, der jahrzehntelang gegen die israelische Besatzung kämpfte.
Vergleich mit der IRA
In diesem Sinne sei die Hamas am ehesten mit der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) zu vergleichen, sagt Wimmen. Diese führte über Jahrzehnte einen bewaffneten Kampf gegen die britische Obrigkeit. Ein weiterer Unterschied zwischen Hamas und Daesh liege in der öffentlichen Wahrnehmung und Unterstützung.
„Die Identifizierung und Gleichsetzung von Hamas und Daesh ist nicht nur absurd, sondern basiert auf einer bewussten Ausblendung von Tatsachen, die etwa die dreißigjährige Existenz der Hamas unter den Palästinensern missachtet, während die nihilistische Brutalität von Daesh heruntergespielt wird“, sagt der politische Analyst Moiz.
Laut Wimmen gibt es noch weitere Unterschiede zwischen Hamas und Daesh. „Die Hamas ist aus der Gesellschaft entstanden, die sie regiert und hat soziale Wurzeln. Sie strebt nach Legitimität und nicht nach Unterwerfung. Daesh war eine fremde Kraft, die sich mit brutaler Gewalt in die Gesellschaft drängte. Sie haben ihre Gewalt zur Schau gestellt, um durch Einschüchterung zu regieren“, so Wimmen.