Zehn Jahre lang stand Jens Stoltenberg (65) an der Spitze des mächtigsten Verteidigungsbündnisses der Welt. An diesem Dienstag übergibt der Norweger das Amt des Nato-Generalsekretärs an den früheren niederländischen Regierungschef Mark Rutte (57). Wird sich die Allianz unter der neuen Führung ändern? An dem ein oder anderen Punkt ist das nicht auszuschließen. Ein Überblick nach Themen:
Die Nato und der Krieg in der Ukraine
Im Gegensatz zu Staats- und Regierungschefs wie Bundeskanzler Olaf Scholz und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban gehörte Stoltenberg in den vergangenen zwei Jahren zu denjenigen Politikern, die beharrlich für eine größtmögliche Unterstützung der Ukraine mit westlichen Waffensystemen warben. So vertrat er die Ansicht, dass es in der derzeitigen Situation im Zweifelsfall besser sei, der Ukraine zu helfen, als Bündnisziele für das Vorhalten von Waffen und Munition zu erfüllen. Ähnlich pro-ukrainisch argumentierte Stoltenberg auch in den Diskussionen über eine konkrete Nato-Beitrittsperspektive für die Ukraine.
Wird Rutte diesen Kurs fortsetzen? Die Ukraine kann darauf hoffen. Der Niederländer ist geprägt von der MH-17-Katastrophe im Sommer 2014. Damals brachte eine russische Rakete über der Ostukraine ein Passagierflugzeug zum Absturz. Unter den 298 Opfern waren knapp 200 Niederländer. Rutte hatte zuletzt mehrfach klargemacht, dass die Ukraine westliche Waffensysteme aus seiner Sicht ohne Einschränkungen gegen Russland nutzen können sollte. So wurde in seiner Amtszeit als Ministerpräsident auch beschlossen, der Ukraine niederländische F-16-Kampfflugzeuge zur Verfügung zu stellen. Unter Berücksichtigung der Wirtschaftskraft gehörten die Niederlande unter seiner Führung auch zu den Ländern, die die Ukraine am stärksten militärisch unterstützten.
Die Nato und Donald Trump
Eine besonders große Herausforderung dürfte der neue Job für Rutte werden, wenn es nach der US-Präsidentenwahl im November zu einer Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus kommen sollte. Äußerungen des Republikaners hatten in der Vergangenheit Zweifel daran geweckt, ob die USA unter seiner Führung uneingeschränkt zur Beistandsverpflichtung stehen würden. Bereits in seiner Amtszeit von 2017 bis 2021 hatte Trump immer wieder über die seiner Ansicht nach zu niedrigen Verteidigungsausgaben von europäischen Alliierten gewettert und zeitweise sogar mit einem Austritt der USA aus dem Bündnis gedroht.
In Sachen Trump steigt Rutte in große Fußstapfen: Stoltenberg erwarb sich in der ersten Amtszeit Donald Trumps große Anerkennung, weil er es immer wieder schaffte, zu vermitteln und besänftigen. Würde Rutte das auch gelingen? Die Voraussetzungen könnten schlechter sein. Während eines Treffens mit Rutte im Jahr 2019 sagte Trump, er und Rutte seien Freunde geworden. Er bezeichnete die Beziehungen zwischen den Niederlanden und den USA als so gut wie nie zuvor.
Die Nato und das Geld
Ob Trump gewählt wird oder nicht – ein Top-Thema für Rutte wird das Werben um höhere Verteidigungsausgaben von europäischen Alliierten sein. Rutte gilt bei diesem Thema jedoch als wenig glaubwürdig. Unter ihm als Ministerpräsident wurden in den Niederlanden noch 2018 lediglich 1,2 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgegeben. Erst in diesem Jahr könnte das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel der Nato knapp erreicht werden.
In der Amtszeit Stoltenbergs stiegen die Verteidigungsausgaben der Nato-Staaten deutlich. Wirkliche große Investitionsschübe gab es allerdings nach dem Beginn des Russland-Ukraine-Kriegs im Februar 2022, und Stoltenberg machte in einer seiner letzten Reden deutlich, dass zwei Prozent des BIP seiner Meinung nach nicht ausreichen werden, um eine sichere Verteidigung und Abschreckung zu garantieren.
Beziehungen zu Ungarn und Türkiye
Deutlich mehr Fragezeichen gibt es, wenn es um die Beziehungen von Rutte zum ungarischen Regierungschef Viktor Orban und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan geht. Schafft es der Niederländer, seine Konflikte mit den beiden unter Kontrolle zu halten? Das Verhältnis zwischen Rutte und Erdoğan sowie Rutte und Orban gilt als extrem schwierig. Als Ministerpräsident machte Rutte nach der Einführung eines homosexuellenfeindlichen Gesetzes in Ungarn deutlich, dass er für das Land derzeit eigentlich keinen Platz mehr in der EU sieht. Mit Erdoğan legte sich Rutte unter anderem an, weil dieser Wahlkampf-Auftrittsverbote für türkische Regierungsmitglieder in den Niederlanden kritisierte.
Ob Rutte ein ebenso erfolgreicher Generalsekretär wird wie Jens Stoltenberg, wird am Ende davon abhängig sein, ob er sich als Vertreter aller Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten sieht. Als militärische Supermacht geben die USA in der Nato zwar den Ton an, das Konsensprinzip sorgt aber dafür, dass auch jeder andere Alliierte mit einem Veto Beschlüsse verhindern kann. Hauptaufgabe des Generalsekretärs der Nato ist es deswegen, die politischen Abstimmungsprozesse zwischen den Alliierten zu koordinieren und dafür zu sorgen, dass auch bei schwierigen Themen ein Konsens erzielt werden kann.
Stoltenberg verstand diesen Job. Mit seiner zurückhaltenden Art, Geduld und diplomatischem Geschick glückte es immer wieder, Blockaden zu lösen. Zuletzt gelang es ihm beispielsweise, Ungarn und Türkiye zur Aufgabe ihrer Vetos gegen den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands zu bewegen.
Die Nato und der Rest der Welt
Einer der bittersten Momente in der Amtszeit Stoltenbergs war der von den USA erzwungene Nato-Abzug aus Afghanistan, der mit einer Rückkehr der Taliban an die Macht endete. Rutte wird sich mit diesem Thema nicht mehr groß beschäftigen müssen, gleichzeitig dürfte allerdings der amerikanische Druck weiter steigen, das Bündnis deutlich stärker als bislang gegen mögliche Bedrohungen aus China in Stellung zu bringen. Für Rutte könnte das eine schwierige Gratwanderung werden. Europäische Alliierte wie Frankreich und Deutschland stehen dem Kurs der USA in der China-Politik eher kritisch gegenüber.
Stoltenbergs neuer Job
Stoltenberg wird nach seinem Abschied wohl in einer neuen Rolle weiterhin globalen Einfluss auf Sicherheitsfragen nehmen: Medienberichten zufolge soll er im kommenden Jahr Christoph Heusgen als Chef der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) ablösen. Entsprechende Berichte wurden der Deutschen Presse-Agentur aus mehreren Quellen bestätigt. Die Münchner Sicherheitskonferenz hat sich seit ihrer Gründung 1963 zu einem der bedeutendsten internationalen Foren zur Sicherheitspolitik entwickelt.