Stunden der Entscheidung in Mariupol: Ein Ultimatum der russischen Armee an die verbliebenen ukrainischen Kämpfer in der strategisch wichtigen Hafenstadt ist am Sonntag ausgelaufen. Der Fall Mariupols könnte das Aus für die russisch-ukrainischen Verhandlungen über einen Waffenstillstand bedeuten. Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj hatte gedroht, die Gespräche zu beenden, sollten die ukrainischen Kämpfer in Mariupol getötet werden. Die russische Armee griff unterdessen erneut die ukrainische Hauptstadt Kiew an.
Russland hatte den in Mariupol verbliebenen ukrainischen Kämpfern eine Frist bis Sonntagmittag gesetzt, um ihre Waffen niederzulegen. Für den Fall der Missachtung des Ultimatums drohte Moskau ihnen mit dem Tod. „Ihre einzige Chance, ihr Leben zu retten, besteht darin, freiwillig die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben“, erklärte das russische Verteidigungsministerium am Samstag. Nach Verstreichen des Ultimatums am Sonntagmittag befanden sich die ukrainischen Kämpfer offenbar weiter in den Stahlwerken von Mariupol.
Vize-Regierungschefin appelliert an Russland für Fluchtkorridore
Die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk appellierte an Russland, Fluchtkorridore für Zivilisten aus Mariupol zu öffnen. Insbesondere für Frauen und Kinder müsse ein „humanitärer Korridor“ geschaffen werden, schrieb sie im Messengerdienst Telegram.
Mariupol wird seit den ersten Tagen nach dem russischen Einmarschs am 24. Februar belagert. Inzwischen ist die einst über 400.000 Einwohner zählende Stadt im Südosten weitgehend zerstört, die humanitäre Lage ist katastrophal. Mehr als 100.000 Zivilisten in der Stadt sind nach Angaben des Welternährungsprogramms akut von Hunger bedroht.
Selenskyj bezeichnete die Lage in Mariupol in einer Videobotschaft als „unmenschlich“. Russland versuche „vorsätzlich, jeden zu vernichten, der dort ist“. An den Westen appellierte Selenskyj, seinem Land „sofort alle notwendigen schweren Waffen“ zu liefern.
„Wir werden alles an Den Haag übergeben“
Die Ukraine wirft Russland vor, in Mariupol und anderen ukrainischen Städten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Der Minister für digitale Transformation, Mychailo Federow, betonte, sein Land sammele derzeit alle Beweise für russische Gräueltaten. „Wir werden alles an Den Haag übergeben“, sagte er mit Blick auf den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), der bereits Ermittlungen zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen in der Ukraine führt. „Es wird keine Straflosigkeit geben.“
Seit dem Rückzug der russischen Streitkräfte aus dem Großraum Kiew hat sich das Kampfgeschehen zunehmend auf die Süd- und Ostukraine verlagert. Experten gehen davon aus, dass Russland bis zum symbolisch enorm wichtigen 9. Mai den Sieg im ukrainischen Donbass verkünden will. Angesichts einer befürchteten russischen Großoffensive in den Donbass-Regionen Luhansk und Donezk rufen die ukrainischen Behörden die dortigen Bewohner seit Tagen auf, gen Westen zu fliehen.
Geplante Fluchtrouten blieben am Sonntag geschlossen
Geplante Fluchtrouten blieben am Sonntag allerdings geschlossen. Es sei nicht gelungen, mit den russischen „Besatzern“ zu einer Einigung über eine Feuerpause für das Gebiet zu kommen, erklärte Wereschtschuk. Bei einem tödlichen Angriff auf ukrainische Flüchtlinge im Bahnhof von Kramatorsk waren Anfang April nach ukrainischen Angaben mehr als 50 Menschen getötet worden.
Nach zwei Wochen relativer Ruhe verstärkte die russische Armee erneut ihre Luftangriffe auf die Region Kiew. In der Nacht zum Sonntag attackierte die russische Armee nach eigenen Angaben in Browary bei Kiew eine Munitionsfabrik und zerstörte sie mit „hochpräzisen luftgestützten Raketen“. Es handelte sich bereits um die dritte Attacke dieser Art im Raum Kiew seit Freitag.
Während Selenskyj erneut vor einem russischen Chemie- oder Atomwaffeneinsatz in der Ukraine warnte, drohte Russland den USA mit „beispiellosen Konsequenzen“, sollte das Land der Ukraine seine „heikelsten“ Waffensysteme bereitstellen. Am Samstag meldete das russische Verteidigungsministerium den Abschuss eines ukrainischen Frachtflugzeugs bei Odessa, an dessen Bord sich angeblich Waffen aus dem Westen befanden.