Zehn Jahre nach NSU: Gebrochene Versprechen, offene Fragen
Zehn Jahre nach Aufdeckung der rechtsterroristischen NSU-Zelle sind immer noch viele Fragen ungeklärt. Das Versprechen, aufzuklären und verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen, wurde nicht eingelöst.
NSU flog vor zehn Jahren auf: Fragen bleiben unbeantwortet (DPA)

Um aus dem NSU-Komplex Fragen abzuleiten oder Zweifel zu formulieren, muss man kein Verschwörungstheoretiker sein. Nicht nur der sogenannte NSU-Prozess, sondern auch die gesamte Entwicklung um den NSU-Komplex entwickelte sich letztendlich zu einer Farce, so dass am Ende nicht nur bei den Opferanwälten, ihren Mandanten und den Angehörigen der Ermordeten weitgehend Resignation übrig blieb.

Das im Vorfeld des NSU-Gerichtsprozesses breit angekündigte „umfassende Geständnis“ der NSU-Mittäterin Beate Zschäpe zerplatzte wie eine Seifenblase. Zschäpe wies bei ihrer Aussage jede Schuld von sich. Sie schob die Verbrechen den beiden mutmaßlichen Mittätern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zu. Diese konnten sich aber zu den Vorwürfen nicht mehr äußern, da sie am 4. November 2011 in Eisenach nach offizieller Darstellung Selbstmord begangen hatten.

Glaubwürdigkeitsdefizit aufgrund von Ungereimtheiten

Besonders die Frage nach der Involvierung des V-Mann-Führers Andreas Temme in den Mordfall des Kasseler Internetcafébetreibers Halit Yozgat 2006 lässt nach wie vor große Skepsis gegenüber Behörden und Justiz aufkommen. Eine „lückenlose Aufklärung“, wie sie von vielen Repräsentanten nach dem Auffliegen der Terrorzelle bereitwillig versprochen wurde, sieht anders aus. Temme, damals Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, war mindestens bei einem Mord am Ort des Geschehens, allerdings – was für ein Zufall – habe er nichts von dem Mord mitbekommen. Neben Andreas Temme ließen auch geistige Leistungsfähigkeit und Erinnerungsvermögen anderer Zeugen im Laufe des NSU-Prozesses erkennbar nach. So gaben immer mehr Personen im Zeugenstand zu Protokoll, dass sie sich nicht mehr erinnerten und dieses oder jenes schon längst vergessen hätten. Kein Wunder, dass manch ein Beobachter den Prozess als gestellt bezeichnete. Christoph Arnowski, Gerichtsreporter des Bayerischen Rundfunks, sprach von „einem schlechten Krimi“ und davon, dass „alles sehr konstruiert“ klinge. Außerdem gebe es starke Ungereimtheiten. Bedauerlicherweise ist das vollständige Interview auf der Internetseite nicht mehr auffindbar. Somit zweifeln viele Menschen im Land, allen voran aus der türkischen Community, Prozessbeobachter und Opferanwälte zumindest an den offiziellen Aussagen.

Seltsame Todesursachen wichtiger NSU-Zeugen

Seltsam erschien zudem der reihenweise Tod von Zeugen, die Angaben zum NSU-Komplex machen wollten. So wurde der Neonazi-Aussteiger Florian H. in seinem Auto tot aufgefunden. Er soll Suizid begangen haben. Fragwürdig war an dem Fall allerdings, dass er der Ex-Freund von Melisa M. war, die ihrerseits mit 20 Jahren an einer plötzlichen Lungenembolie verstarb, nachdem sie im März 2015 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg befragt worden war. Florian H. und Melisa M. hatten beide vor, weitere Aussagen zum Mörder der mutmaßlich vom NSU getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter zu machen. Florian H. verbrannte aber noch 2013, genau an dem Tag, an dem er von Beamten des LKA vernommen werden sollte, in seinem Auto. Er soll sich aus „Liebeskummer“ das Leben genommen haben. Die Komplexität nahm kein Ende: Am 8. Februar 2016 wurde Sascha W. tot in seiner Wohnung aufgefunden. Der 31-Jährige stand in persönlicher Verbindung zu den beiden genannten NSU-Zeugen Florian H. und Melissa M. Er verlobte sich nach dem Tod von Florian H. mit Melisa M.

Dies waren nicht die einzigen wichtigen Zeugen, die während des NSU-Prozesses auf fragwürdige Art und Weise „verstarben“. Einer der Toten, Thomas R., war ein gut bezahlter V-Mann mit Codenamen „Corelli”, der im Kreis Paderborn tot in seiner Wohnung aufgefunden wurde. Da er sich im Zeugenschutzprogramm befand, warf sein Tod naturgemäß viele Fragen auf. Nach offizieller Darstellung verstarb der 39-Jährige, dessen Name auch auf einer Adressliste von Uwe Mundlos auftauchte, an einer „unerkannten Diabetes”. Überzuckerung lautete also die offizielle Todesursache.

Schon 2009, also noch vor Auffliegen des NSU-Systems, fand man die verbrannte Leiche von Arthur C., dessen Name in den Ermittlungsakten zum Kiesewetter-Mord auftauchte. Der junge Mann soll eine „verblüffende Ähnlichkeit“ mit einem der Phantombilder aus den Akten gehabt haben.

Zweifel an offizieller Suizidthese

Menschen aus dem NSU-Umfeld starben somit generell häufiger an plötzlich auftretenden „Krankheiten“, „Verbrennung“ oder „Selbstmord“. Die beiden mutmaßlichen Haupttäter des NSU, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, sollen nach offizieller Darstellung ebenfalls Suizid begangen haben. Jedoch äußerte vor einiger Zeit der Waffenexperte Siegmund Mittag Zweifel an der Todesursache der beiden Terroristen. So wurde berichtet, Mittag verweise auf die Anzahl der im Wohnmobil gefundenen Patronenhülsen und eine dort gefundene unbekannte DNA-Spur. Außerdem gebe es Zeugenaussagen, wonach sich eine weitere Person im Wohnmobil befunden habe. Mittag lehne daher die Selbstmord-Theorie der Polizei als „unmöglich“ ab. Des Weiteren hatten die Ermittler weder in der Lunge von Uwe Mundlos, noch in der von Uwe Böhnhardt Rußpartikel gefunden. Auch dies widerspreche einer Selbstmordthese.

Tiefer Staat in der Bundesrepublik?

Allein diese fragwürdigen Todesfälle wichtiger NSU-Zeugen haben das Vertrauen vieler Menschen geschädigt. Die „taz“ formulierte es so: „Die Nichtaufklärung der NSU-Morde zeigt, wie der Tiefe Staat in der Bundesrepublik funktioniert – samt seiner Wasserträger im Parlament“. Eine weitere Schmach für die Münchener Justiz war zudem, dass zu Prozessbeginn türkischen Medien sowie Diplomaten die Beobachtung und Berichterstattung verweigert wurden. Ganz zu schweigen von der Bedrohung und Weitergabe privater Daten der Opferanwältin Seda Başay-Yıldız.

Was wird aus dem Versprechen der scheidenden Bundeskanzlerin?

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte den Hinterbliebenen der NSU-Opfer die vollständige und bedingungslose Aufklärung des NSU-Komplexes höchstpersönlich zugesichert. Bei der zentralen Gedenkfeier für die Neonazi-Opfer hatte Merkel im Februar 2012 in Berlin Folgendes versprochen: „Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.“ Leider blieb dieses Versprechen bis heute uneingelöst. Die angekündigte Aufklärung der NSU-Mordserie ist weiterhin lückenhaft und unvollständig.

Der lange Arm der NSU-Terrorzelle

In den letzten zehn Jahren wurden allerlei Aufklärungsversuche nachgewiesenermaßen behindert, manipuliert oder sabotiert. Der Arm der Terrorzelle reicht möglicherweise weiter als gedacht. Die Verantwortlichen, ihre Helfer und Helfershelfer müssen aber zur Rechenschaft gezogen werden. Ansonsten nehmen Judikative, Exekutive und Legislative weiteren Schaden. Ihre Glaubwürdigkeit leidet unter der Nicht-Aufklärung und Verschleierung. Das Verheimlichen und Vertuschen darf nicht weiter gestattet werden. Falls keine ernsten Konsequenzen gezogen werden, bleibt nur die Frage: Wollen wir unsere Demokratie, unsere freiheitlich-rechtstaatliche Ordnung, unsere staatlichen Institutionen diesem Skandal unterordnen und opfern?

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