Die Grünen befinden sich zweifellos im Höhenflug - vor allem im städtischen Raum bei jungen Menschen. Viele Medien, Wähler und Meinungsforschungsinstitute fragen sich, wie viel Weltoffenheit, Multipluralismus und Grün in eine Welt integrierbar sind, die immer mehr von Konservativen und Rechten bestimmt wird. Kann man hier von einem Gegenpol zum erstarkenden Rechtsnationalismus und -populismus sprechen, die nicht nur die EU, sondern auch Deutschland vor eine große Zerreißprobe stellen? Sind die Grünen hierbei die Nutznießer?
Zuletzt wurden wir bei der Oberbürgermeister-Wahl in Hannover am 10. November Zeugen einer außerordentlichen Entwicklung - mit einer Überraschung, über die sich nicht jeder freuen konnte. Nach mehr als 70 Jahren musste sich die SPD geschlagen geben: Der Kandidat der Grünen konnte sich letztlich gegen die CDU durchsetzen und wurde zum Oberbürgermeister gewählt. Dieser Kandidat, der bisher außerhalb Niedersachsen vielen Menschen unbekannt war, heißt Belit Onay, ist Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie und damit der erste türkischstämmige Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt.
In einer Zeit, in der der Vormarsch der Rechten immer lauter wird, sich in Polizei und Bundeswehr rechtsextreme Netzwerke formieren und AfD-Politiker den Einzug in die Landtage aller Bundesländer schaffen, war dieser Wahlsieg gewiss ein ganz besonderer und historischer. Obwohl der studierte Rechtswissenschaftler Belit Onay (38) nicht seine Herkunft in den Vordergrund stellt, sondern seine politischen Ambitionen, wird er vor allem von einigen CDU-PolitikerInnen, Rechten und der AfD einer Diffamierungskampagne ausgesetzt, weil er 2016 im niedersächsischen Landtag Jugendliche von der Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa (ATIB) empfangen hat. Zudem setzte er sich persönlich für den Staatsvertrag mit der Schūrā ein, dem Landesverband der Muslime, der übrigens zur Enttäuschung von islamophoben Kreisen kein Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes in Hannover ist. Über seine Person sollen in erster Linie von Muslimen gegründete Vereine kriminalisiert, an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Es sind dann dieselben Kreise, die sich hinterher über angebliche Parallelgesellschaften beschweren. Der Dialog mit der türkisch-muslimischen Community auf Augenhöhe ist in Deutschland auch nach über 60 Jahren Migrationsgeschichte von einigen Seiten unerwünscht.
Die Wahl eines Türkischstämmigen zum Oberbürgermeister ist sicherlich ein Zeichen der Normalisierung, die aber bei weitem nicht bei allen Gesellschaftsschichten und -kreisen angekommen ist. Zum einen wird mehr Integration von Migranten und Migrantenkindern gefordert, zum anderen werden ihnen Steine in den Weg gelegt, sobald die Kinder von Migranten später Ärzte, Ingenieure, Anwälte, Lehrer und nun auch Oberbürgermeister werden. Gesellschaftlich betrachtet sollen weder die Tischregeln geändert werden, noch soll der Kuchen mit den „Gastarbeitern“ geteilt werden. Sie sollen am besten ohne Widerrede die Regeln akzeptieren und ja nicht auffallen. Doch dieses koloniale Denkmuster hat in einer kosmopolitischen Stadt, in einer pluralen Gesellschaft, keine Zukunft - sollte es zumindest nicht haben. Manche gehen sogar so weit, von einer „Islamisierung“ zu sprechen, obwohl Onay sich als moderaten Muslim definiert. Die AfD und Konsorten müssen sich an diesen gesellschaftlichen Pluralismus gewöhnen - in Politik, Gesellschaft, Bildung, Beruf, Film und Kunst - und an Universitäten, wo nicht nur Studierende, sondern auch Dozenten und Doktoranden mit Migrationshintergrund das Campusbild prägen.
Seit der Wahl eines aus der Türkei stammenden Menschen zum Oberbürgermeister werden kontroverse Diskussionen in der türkischen Community in Deutschland geführt. Auf der einen Seite eine Welle der Euphorie, auf der anderen Seite Skepsis. Wer einen Blick in Belit Onays Biografie wirft, weiß auch, dass gerade die Mordanschläge auf eine türkische Familie in Solingen in den 1990ern ihn politisiert haben. Eine ganze Generation von Türken ist mit diesem Bild aufgewachsen und kann in diesem Kontext das Unwort „Beileidstourismus“ bis heute nicht vergessen und verständlicherweise auch nicht verzeihen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl nahm nicht an der Beerdigung von Neonazis ermordeten Türken teil. Diese Apathie in der Politik hat zur Entfremdung beigetragen und war aus Sicht der in Deutschland sozialisierten Migranten auch ein klares Signal an alle, die die Ideologie der Mörder teilten. Die Zeit hat gezeigt, dass rechtsterroristische Netzwerke wie der NSU sich im Untergrund für den Tag X formierten. Bis 2011 blieb die NSU unentdeckt. Sie ermordete so neun Migranten und eine Polizistin. Doch die Rolle des Verfassungsschutzes bei der Organisation dieses Terrornetzwerks - Stichwort Temme - wurde bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Ganz zu schweigen vom institutionellen Rassismus bei den Ermittlungen, wobei die Familien der Opfer verdächtigt wurden.
Zurück zum eigentlichen Thema: Der neue Oberbürgermeister von Hannover, Belit Onay, der offiziell am 22. November sein Amt angetreten hat, spricht auch von Diskriminierungserfahrungen in seiner Jugend - so wie fast jeder Deutschtürke. Das verbindet ihn mit vielen Menschen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte. Immerhin ist Diskriminierung in der Schule, am Arbeitsplatz, an Universitäten leider allgegenwärtig. Deshalb sind auch viele stolz auf den Erfolg eines Menschen mit Migrationsgeschichte. Dennoch gibt es in der türkischen Community Skeptiker, die in der Vergangenheit von anderen türkischstämmigen Abgeordneten im Bundestag bitter enttäuscht wurden. Sie hatten viel Hoffnung in sie gesetzt, wurden aber enttäuscht. Sie diskreditieren einen Teil der türkischen Gemeinde aufgrund der Politik in der Türkei und deklarieren diese Menschen zu Feinden der Demokratie. Die gleichen Abgeordneten hatten zu jener Zeit DITIB-Moscheen besucht und den Dialog mit den Gemeinden gesucht. Für Stimmenfang waren diese noch als Ansprechpartner gefragt, heute meidet man jeglichen Augenkontakt, um nicht von Rechten diffamiert zu werden. Diese negativen Erfahrungen mit türkischstämmigen PolitikerInnen in Deutschland haben über Jahre hinweg die Denkweise vieler Deutschtürken geprägt, die sich in gewisser Weise ignoriert, ausgenutzt und ausgegrenzt fühlen.
Wenn man nun einen Bogen in die amerikanische Politik schlägt, stellt sich mir die Frage: Wie schafft es eine Alexandria Ocasio-Cortez von den Demokraten die Interessen von Randgruppen und Minderheiten zu vertreten - und das mit Erfolg -, während hierzulande Politiker aus dem Migrantenmilieu ihre eigene Wählerschaft mit der Zeit vergessen? Ich bin politisch nicht aktiv, aber für die politischen Ideale einer tapferen Frau wie Ocasio-Cortez wäre ich auch von Tür zu Tür gerannt. Wer von uns nicht?
Man darf natürlich nicht der Romantik verfallen, ein türkischstämmiger Politiker oder Oberbürgermeister würde ausschließlich die Interessen der türkischen Community vertreten. Es ist aber das Mindeste, dass er die Interessen aller Hannoveraner und Bürger, ob mit oder ohne deutschen Pass, vertritt, und nicht nur die eines bestimmten politischen Milieus. Seine politischen Statements bezüglich der türkischen Community werden kritisch beäugt. Es werden sowohl Aufmerksamkeit als auch die Aufrechterhaltung des Dialogs gefordert, auch wenn man nicht immer die Ansichten des Ansprechpartners teilt. Die kommenden sieben Jahre werden zeigen, ob sich der neue Oberbürgermeister von Hannover im aktuellen politischen Klima behaupten kann.