Türkiye wehrt sich gegen die Vorwürfe des griechischen Einwanderungsministers Notis Mitarachi, türkische Grenzbehörden hätten 92 Migranten unter sehr schlechten Bedingungen über die türkisch-griechische Grenze geschleust. Dabei wurden Bilder auf der Social Media Plattform Twitter geteilt, die beweisen sollen, dass diese Migranten nackt gewesen wären. Frontex soll zudem dieses Ereignis bestätigt haben. Gegenüber Türkiye versucht die griechische Seite auf der internationalen Bühne, sich als ein Land zu profilieren, das sich angeblich für die Rechte und Freiheiten von Flüchtlingen einsetzt. Der türkische Vize-Innenminister Ismail Çataklı antwortete umgehend, dass die Anschuldigungen nicht der Wahrheit entsprächen und die Fotos, ursprünglich aus 2019, von griechischen Behörden misshandelte Migranten zeigten. Neben Çataklı hat auch der Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun die Anschuldigungen als Lüge bezeichnet und kritisierte Griechenland gleichzeitig, dass es gemeinsam mit der EU verantwortlich sei für unzählige ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer.
Unglaubwürdige Vorwürfe
Soweit zur Sachlage. Die internationalen westlichen Medien kritisierten wie erwartet Türkiye sehr scharf. Die Bestätigung von Frontex führt zudem dazu, dass die griechische Seite einen unterstützenden Faktor in ihrem Vorwurf hat. Doch wie glaubwürdig sind diese Vorwürfe? Türkiye wurde bislang kaum damit konfrontiert, Flüchtlinge unter schlimmsten Bedingungen über die Grenze zu schleusen. Es ist durchaus möglich und auch höchstwahrscheinlich, dass vereinzelt Schlepper Flüchtlinge über die Ägäis mit sehr hohem Risiko und Todesgefahr nach Griechenland bringen. Doch diese Fälle sollten als Ausnahme von der Regel verstanden werden, da türkische Grenzbehörden die Grenzen sehr stark bewachen.
Kommen wir zur Glaubwürdigkeit Griechenlands. Erst vorletzte Woche Donnerstag wurde der sogenannte OLAF-Bericht veröffentlicht, in dem offengelegt wird, wie griechische Grenzbehörden gemeinsam mit Frontex (!) Flüchtlinge aus Türkiye in Schlauchbooten auf der Ägäis aussetzen, damit sie nicht von ihrem Asylrecht Gebrauch machen können. Auffällig ist auch, dass griechische Politiker und Frontex-Mitarbeiter sich nicht zu diesem Bericht äußern wollen. Stattdessen sagen Politiker in Griechenland, sie hätten den OLAF-Bericht nicht gelesen oder stempeln diesen als „Fake News“ ab.
Griechenland sucht moralische Überlegenheit
Der OLAF-Bericht bringt die griechischen Behörden und Frontex in eine Bredouille. Das Ignorieren des Berichts oder diesen als Lüge zu bezeichnen, zeigt, dass die griechische Regierung zurzeit keine Antwort auf diese Vorwürfe findet. Dass der griechische Einwanderungsminister Mitarachi dann ein Tag nach der Publikation des Berichts mit einem anderen Ereignis Türkiye Vorwürfe macht und damit offensichtlich von der eigenen Krise an der griechischen Grenze ablenkt, verstärkt die Vermutungen hinsichtlich des Wahrheitsgehalts des OLAF-Berichts.
Griechenlands Anschuldigungen gegen Türkiye und die Art und Weise, wie die griechische Seite nun versucht, sich damit zu brüsten, dass man sich plötzlich für das Wohlbefinden der Flüchtlinge interessiert, ist nicht sehr glaubwürdig. Noch im Februar 2020 hatten griechische Grenzbehörden Flüchtlinge an der griechisch-türkischen Grenze aggressiv zurückgedrängt, wobei es mehrere Tote gab. Dazu muss man untermauern, dass EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen das Verhalten Griechenlands unterstützte. Wenn die EU schon in der Vergangenheit hinter solchen Aktionen Griechenlands stand, sollte klar sein, dass bei solchen Fällen nicht die Moral oder die Menschenwürde, sondern politische Interessen im Vordergrund stehen.
Griechenland möchte Konflikt auf andere Ebene austragen
Der griechische Vorwurf gegen Türkiye trägt noch eine weitere Komponente mit sich. Türkiye und Griechenland sind seit längerer Zeit in einem Konflikt; vor allem in der Region des östlichen Mittelmeers besteht das Risiko, dass dieser Konflikt auch militärisch ausgetragen werden könnte. Bei einem Direktvergleich zwischen den beiden Ländern ist Türkiye militärisch weit überlegen. Dessen ist sich auch Griechenland bewusst. Doch im Gegensatz zu Türkiye kann Griechenland neben den USA auch mit Unterstützung der EU rechnen. Vor allem nachdem die Merkel-Ära in Deutschland im Dezember letzten Jahres zu Ende ging, hat die jetzige Bundesregierung als letzter relevanter Vermittlerakteur zwischen den beiden Staaten aufgrund ihrer einseitigen Unterstützung Griechenlands ihre Rolle verloren.
Die Perspektive westlicher Staaten auf Türkiye war schon vor diesen Anschuldigungen eher negativ eingestellt. Der Unterschied hierbei jedoch, dass Türkiye bislang bei seiner Flüchtlingspolitik große Arbeit geleistet und trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten an dieser Linie festgehalten hat. Die türkische Regierung hat einen Löwenanteil daran, dass die EU durch weiteren Zustrom von Flüchtlingen nicht kritisch destabilisiert wurde. Nun wird durch diese Anschuldigungen jedoch versucht, dem Image von Türkiye in einem weiteren Bereich zu schaden.
Das ist sehr ironisch, wenn man bedenkt, dass die EU für den Tod von Tausenden von Flüchtlingen verantwortlich ist. Von der Dunkelziffer ganz zu schweigen. EU und vor allem Griechenland sollten sich lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, wenn es um ihre eigene Flüchtlingspolitik geht. Der Versuch, durch Vorwürfe und Anschuldigungen ihr eigenes Image zu verbessern und sich damit als Held der Flüchtlinge zu präsentieren, komplettiert das Paradoxon.