Ukraine-Konflikt - über Unsicherheit und Gewissheiten
Der aktuelle Konflikt zwischen Russland und der NATO ist geprägt von vielen Fragen und Unklarheiten. Deswegen wird spekuliert, und das gehört zum russischen Plan. Es gibt aber auch Klarheit in Punkten, die zum Verständnis der Lage beitragen.
Macron und Putin: „Notwendigkeit der Deeskalation“ im Ukraine-Konflikt (DPA)

Verschiedene sicherheitspolitische Beobachter konstatieren am Beginn des Jahres 2022, dass wir seit dem Ende des Kalten Krieges nie näher an der Schwelle zu einem Krieg standen. Grund für eine solche Einschätzung ist nicht nur die Lage, sondern die damit verbundene Unsicherheit, die aus der Konfrontation rührt. Sie ist kein Unfall, sondern folgt Putins Kalkül, nicht nur die Ukraine zu bedrohen und zu zeigen, dass ein Blitzkrieg möglich ist, sondern in einem Experiment den Westen vorzuführen, dessen Schwächen aufzudecken und zu testen, wo unter Druck welche Bruchstellen, Widersprüche und Hindernisse bei der Formulierung einer gemeinsamen Position zum Vorschein kommen, die sich durch weitere Maßnahmen ausnutzen lassen könnten.

Test the West

Dabei ist die Vielstimmigkeit der westlichen Bündnispartner und ihrer politischen, zivilen und militärischen Organisationen ein Wesensmerkmal freier Gesellschaften und nicht erst die Folge einer Herausforderung. Gerade weil die Demokratien Meinungsfreiheit und Vielfalt verpflichtet sind, gibt es alle möglichen Positionen und Begründungen. Die Vielstimmigkeit verstärkt sich durch die beabsichtigte Ungewissheit bezüglich der Lage. Was will der Kreml? Was fürchtet Putin? Welche Reaktion würde Wirkung zeigen? Über alles wird spekuliert, was wiederum die Unterschiede verwischt zwischen dem, was klar ist und allem, worüber Unsicherheit besteht oder worüber man unterschiedlicher Meinung sein kann, ohne dass dies gleich ein Zeichen der Schwäche ist.

Militärische Präsenz und gefühlte Bedrohung

Moskau erklärt, dass es sich vom Westen bedroht fühlt, und verlangt schriftlich, dass die NATO eine künftige Mitgliedschaft ehemaliger Sowjetrepubliken ausschließt. Dabei geht es um die Ukraine, aber auch um Georgien, eigentlich auch um die baltischen NATO-Mitglieder oder Finnland, das zwar neutral ist, dem aber ebenfalls das Recht abgesprochen wird, über seine Sicherheitspolitik selbst zu entscheiden.

Russland verleiht seiner Position Nachdruck, indem es die Ukraine von drei Seiten mit 100.000 Soldaten umzingelt. Demgegenüber sind NATO-Soldaten bei ihren östlichen Partnerstaaten eher symbolisch präsent. Daran ändert auch die angekündigte Alarmbereitschaft von 8.500 US-Soldaten und die Verlegung von französischen, dänischen, niederländischen oder spanischen Einheiten wenig. Militärisch ist Russland aktuell jedem einzelnen europäischen Land klar überlegen. Sicherheit in Europa baut deswegen auf kollektive Sicherheit und auf Abschreckung. Keine Seite riskiert die unkalkulierbaren Kosten eines Krieges und die Möglichkeit eines nuklearen Super-GAUs, weil am Ende der amerikanische Partner als immer noch mächtigste Militärmacht der Welt die Sicherheit der Europäer zuverlässig garantiert.

Bei der Frage, ob die NATO eine Bedrohung ist, wie es der Kreml empfindet, wiegt allerdings etwas anderes schwerer als die Frage ihrer potentiellen Erweiterung: Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis. Es gibt in keinem der demokratischen Mitgliedstaaten ein Interesse an einem militärischen Konflikt mit Russland. Moderne europäische Gesellschaften haben auch keinen Appetit auf territoriale Eroberung oder historische Umschreibungen. Der Spielraum für autoritäre Systeme ist demgegenüber breiter, wie nicht nur die Besetzung der Krim und Teile Georgiens eindrucksvoll belegen.

Historische Fakten und gefühlte Wahrheit

Putin sieht den Zerfall der Sowjetunion als die größte Katastrophe eines Jahrhunderts, das reich war an großformatigen Katastrophen. Zu dieser Erzählung gehört die Behauptung, der Westen habe die Schwäche der zerfallenden Weltmacht und seiner damaligen Führer ausgenutzt, um die Vereinbarung zu brechen, wonach die NATO sich nicht nach Osten erweitern werde. Historiker haben nachgewiesen, dass es in den Archiven keine Belege für eine solche Verabredung gibt. Das widerspräche auch dem, wofür der Westen steht. Ein freies und souveränes Land kann selbst entscheiden, welcher Organisation es sich anschließt oder welche es verlässt. Eine auf internationalem Recht basierende Weltordnung garantiert die territoriale Unversehrtheit von Staaten und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Sie lehnt Vasallentum ebenso ab wie Einflusszonen. Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis und die EU eine Werte- und Interessengemeinschaft. Beiden ist nicht an imperialer Ausdehnung gelegen, sondern sie akzeptieren den aus Eigeninteresse gestellten Antrag auf Mitgliedschaft, sofern ein Staat willens und in der Lage ist, die Bedingungen für eine Mitgliedschaft zu erfüllen.

Der Weg dorthin ist keineswegs trivial, und die Aufnahme bleibt eine politische Entscheidung, bei der es nicht nur um die Beitrittsfähigkeit der Kandidaten geht, sondern auch darum, ob EU, NATO und ihre Mitglieder dafür bereit sind. Angewandt auf die Ukraine, ist die Antwort ein klares Nein. Das ist jedem klar. Es hindert die politische Mehrheit aber nicht daran, das Ziel einer NATO-Mitgliedschaft in der ukrainischen Verfassung zu verankern.

Russland stellt nicht nur die Möglichkeit in Frage, dass die Ukraine ein solches Ziel verfolgen darf. Es bezweifelt schlicht deren Souveränität und träumt von der historischen Wiedererrichtung einer russisch-ukrainischen Union.

Wiederherstellung von Stolz und Größe einer Weltmacht

Überhaupt scheint in dem Konflikt Kultur eine große Rolle zu spielen. Für die russische Führung ist das westliche Gesellschaftsmodell dekadent, nihilistisch und im Abstieg begriffen. Trotzdem geht davon eine Gefahr aus, aber weniger militärisch, sondern durch sein überlegenes Wirtschaftsmodell und die Attraktivität der Lebenschancen, die den Menschen durch Freiheitsrechte und Teilhabe geboten werden. Solange der westliche Lebensstil als Leitbild erscheint, müssen sich autoritäre Herrscher und die Nutznießer ihres Regimes fürchten. Friedliche „Farben“-Revolutionen erscheinen in ihrer gesellschaftlichen Sprengkraft als die größte Bedrohung. Deswegen muss der Westen als zerstritten und unfähig vorgeführt werden. Und selbst wenn am Ende keine faktischen Erfolge des russischen Manövers zu verzeichnen sind, so sieht sich Russland in seiner Selbstwahrnehmung zurückgekehrt als globale Macht, die sich und den Westen beeindruckt und ihm seine Schwächen und Widersprüche vorgeführt hat. Einem solchen Russland kann niemand – wie einst Präsident Obama – erklären, es sei nur noch Regionalmacht.

Alles hat seinen Preis

Doch auch wenn ein solcher propagandistischer Triumph gelingt und innenpolitisch verfängt: Er überdeckt nur kurz die Tatsache, dass Russland gewichtige Probleme hat und neue hinzukommen. Soziale Unterschiede wachsen. Die Bevölkerung altert. Das Geschäftsmodell, fossile Brennstoffe zu exportieren, läuft aus. Gaskunden werden sich schneller um alternative Energien kümmern. Die Notwendigkeit der NATO ist klarer denn je, Verteidigungsausgaben werden steigen, das transatlantische Verhältnis ist gestärkt, die USA sind zurück in Europa, Nord Stream 2 ist für die neue Bundesregierung nicht zu halten und die Russland-Versteher im Westen wurden geschwächt. Auch ohne weitere Sanktionen wird es schwierig, in der Gesamtbilanz einen Erfolg für den Kreml zu erkennen.

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