Was in Europa meistens als Randerscheinung im politischen und akademischen Diskurs abgetan wird – die wissenschaftliche Analyse des Klein- und Familienbetriebs –, gewinnt in Türkiye (Türkei) immer mehr an Bedeutung. Kein Wunder, sind doch 99,83 Prozent aller Firmen KMU, also kleine und mittlere Unternehmen. Und über die vergangenen zwei Jahrzehnte hinweg hat sich auch hier vieles zum Besseren gewandelt. Man denke nur an eine beachtliche Steigerung beim Exportvolumen von mageren zehn Prozent Anfang des neuen Millenniums auf nunmehr über 55 Prozent. Natürlich gibt es auch hier noch Luft nach oben, aber die Umstellung von Zulieferern auf Top-Qualität-Endproduktproduzenten hat bewiesen, dass auch Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitern (oftmals sogar weniger als 50 Bedienstete) einen enormen Beitrag zur nationalen ökonomischen Wertschöpfung leisten können.
Die Relevanz der türkischen KMU spiegelt sich auch in einer hochaktuellen Umfrage wider, die letzten Donnerstag in der Hauptstadt Ankara veröffentlicht wurde. Unter dem Titel „EU-Türkiye Wirtschaftsbeziehungen – Standpunkte der türkischen Privatwirtschaft“ wurde in mittlerweile dritter Auflage eine großangelegte Studie publiziert, die 1828 Unternehmer zur aktuellen Lage bezüglich der EU-Mitgliedsverhandlungen ihres Landes befragte. Und 92,01 Prozent der Teilnehmer repräsentierten KMU! Die Umfrage ist ein Kooperationsprojekt zwischen TOBB (Union der Kammern und Warenbörsen in Türkiye) und Eurochambres (Vereinigung der europäischen Industrie- und Handelskammern), kofinanziert von der EU im Rahmen der laufenden Mitgliedsverhandlungen und Teil des EU-Türkiye Wirtschaftsdialogs (TEBD).
Soll der Unternehmer-Zug also weiter nach Brüssel fahren? Und was muss sich seitens der EU ändern, damit genau dieser Zug wieder Fahrt aufnimmt?
Zollunion 2.0
Die 1995 vereinbarte Zollunion zwischen der EU und Türkiye brachte bedeutsame Erleichterungen im beiderseitigen Handel und führte zu einem bemerkenswerten Anstieg im Volumen von 28,9 Milliarden US-$ auf 153,2 Milliarden US-$ in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens. Fast die Hälfte aller türkischen Exporte landen in der EU.
Doch obwohl diese Zahlen beeindrucken, ist die Zeit gekommen, um über eine Modernisierung des Abkommens zu reden, und genau diese Doppelstrategie befürworten türkische Wirtschaftsbosse.
60 Prozent der Befragten sehen eine zukünftige EU-Mitgliedschaft als positiv, 62 Prozent bewerten die bereits existierende Zollunion als vorteilhaft, aber 61 Prozent fordern gleichzeitig deren Modernisierung. Doch aufgepasst: 22 Prozent finden, dass die Zollunion Nachteile für die türkische Wirtschaft mit sich bringt. Es scheint also eine Korrelation zwischen EU-Skepsis und Zollunion-Unzufriedenheit zu geben. Anders formuliert: Sollte die Zollunion modernisiert werden, könnte die Anzahl der EU-Mitgliedschafts-Befürworter auf über 80 Prozent steigen.
Streitpunkt Nummer eins: Wann wird der Agrarsektor Teil der Zollunion? Nummer zwei: Wann wird der Dienstleistungssektor aufgenommen? Neben diesen seit vielen Jahren im Raum stehenden Forderungen von türkischer Seite haben sich in jüngster Zeit zwei weitere Themen in die Top 4 vorgeschoben: Digitalisierung und Umwelt- bzw. Klimapolitik.
Und um diese Themen und Forderungen an die richtige Adresse zu senden, braucht man Verbündete. Umso bedeutsamer ist in diesem Zusammenhang die unmissverständliche Stellungnahme des Vorstandsvorsitzenden der 1000 Mitgliedsfirmen starken Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer AHK. Dr. Markus C. Slevogt sagte im Rahmen der Veranstaltung und als Antwort auf eine diesbezügliche Frage „Zollunion 2.0? Definitiv!“
Das Wort der AHK hat Gewicht nicht nur im Rahmen von Eurochambres, sondern natürlich auch bei der deutschen Regierung und damit verbunden in der EU an sich.
Ebenso gibt es engste Beziehungen zwischen Österreich und Türkiye. Mag. Dr. Christian Maier – Repräsentant der Wirtschaftskammer Österreich WKÖ in Ankara – nahm an der Umfragepräsentation teil und führte im persönlichen Gespräch aus, dass österreichische Unternehmen zu den größten Investoren in Türkiye gehören und die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern als positiv betrachten.
Dieser Kommentar kann auch im Kontext einer weiteren Veranstaltung verstanden werden: Beim Austrian Business Circle und Webinar Türkiye vom 26. Januar dieses Jahres stellte der österreichische Wirtschaftsdelegierte in Istanbul, Mag. Georg Karabaczek, eine eigene Umfrage zur Einstellung österreichischer Tochterunternehmen in Türkiye vor. Und dort finden sich ebenso beeindruckende Zahlen wieder: Trotz globaler und wohl auch pandemiebedingter Umstände lieferten österreichische Unternehmen bereits bis Oktober 2021 22 Prozent mehr nach Türkiye als noch im Vorjahr; türkische Firmen verkauften um 28 Prozent mehr nach Österreich (ABC-Indikator Türkei, WKÖ).
Unternehmen müssen „Wandel“ als positiv verstehen
Unabhängig von der eindeutigen Unterstützung deutscher sowie österreichischer Wirtschaftsvertreter und im Rahmen der Umfragepräsentation von TOBB und Eurochambres wurde aber auch eines deutlich: Um sich auf die Post-COVID-19-Ära vorzubereiten, sind Unternehmer gefordert, das Stichwort „change“, also Wandel oder Umstellung, besser umzusetzen.
So bemerkenswert der Aufstieg der türkischen KMU auch ist – u.a. führte dies zur Bildung einer erfolgreichen und starken Mittelschicht, die nun das Rückgrat der türkischen Gesellschaft und Wirtschaft formt –, ohne weitere Umstrukturierungen könnte dieser Trend verblassen.
KMU müssen sich verstärkt um das Thema Innovation kümmern, um ihre Produkte und Dienstleistungen benutzerfreundlicher sowie umweltfreundlicher herzustellen bzw. anzubieten.
Dies ist leichter gesagt als getan, denn jede Firmenumstrukturierung kostet Geld. Und hier sind erneut EU und nationale Regierungen gefragt. Um Investitionen zu erleichtern, müssen nicht nur finanzielle Anreize – z.B. günstige Kredite, staatliche Förderung –, sondern auch logistische und legale Hilfestellungen geleistet werden. Das Thema Klimawandel braucht gesetzliche Vorgaben; eine Reduzierung der Abhängigkeit von importierten Energiequellen erfordert ebenso den Gesetzgeber, um Alternativen bereitzustellen.
Nicht zuletzt: Digitalisierung
74 Prozent der befragten Unternehmer in der TOBB/Eurochambres-Studie befürworten einen digitalen EU-Binnenmarkt. Auf Seiten türkischer Unternehmer betrachtet, macht ein digitaler Binnenmarkt aber nur dann Sinn, wenn dieses Thema auch im Rahmen der zu modernisierenden Zollunion angesprochen wird.
E-Commerce ist nicht mehr wegzudenken, und türkische KMU bereiten sich verstärkt darauf vor. Viele türkische Start-ups sind ohnehin „digitalisiert“.
Und wahrscheinlich wird es beim Thema Zollunion 2.0 genau auf Folgendes ankommen: Obwohl sich Arbeitswelt und auch Konsumentenverhalten stetig ändern, macht es Sinn, traditionelle Industrien sowie die Landwirtschaft nicht von der voranschreitenden Digitalisierung abzukoppeln. Moderne Technologien sind in allen Wirtschaftszweigen, aber auch Schritt für Schritt im Agrarsektor immer häufiger vorzufinden.
Und nicht zuletzt erleichtert eine Digitalisierung auch den grenzüberschreitenden Verkauf von Produkten und Dienstleistungen.
Zusammengefasst: Fährt der Unternehmer-Zug aus Türkiye weiter Richtung Brüssel? Wenn man der Umfrage, die wir heute vorgestellt haben, Glauben schenkt: Aber sicher! Aber eben nicht bedingungslos – türkische Unternehmer haben berechtigte Forderungen an die EU. Und nur dann wird dieser sprichwörtliche Zug auch eines Tages und hoffentlich bald in Brüssel ankommen; Voraussetzung ist aber ein Dialog auf Augenhöhe, genauso wie der Türkiye-EU Wirtschaftsdialog.