Scholz-Besuch in Türkiye: Chance für einen Neuanfang
Scholz besucht Erdoğan in Istanbul. Das Treffen könnte einen Wendepunkt in den zwischenstaatlichen Beziehungen markieren. Denn Deutschland und der Westen brauchen Türkiye mehr denn je.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, l) und Recep Tayyip Erdoğan (Archivbild) / Photo: DPA (DPA)

Inmitten der globalen Krisen reist Bundeskanzler Olaf Scholz nach Istanbul, um dort mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zusammenzukommen. Der stellvertretende Sprecher der Bundesregierung, Wolfgang Büchner, präsentierte bereits eine breite Palette an Themen, die auf der Tagesordnung stehen werden. In einigen Bereichen scheint sich etwas zu bewegen.

Überwindung der Differenzen und Neuanfang in den Beziehungen

Der türkische Staatspräsident Erdoğan und Bundeskanzler Scholz hatten zuletzt bei ihrem Treffen vor dem UN-Gipfel in New York im September einen verstärkten Dialog zur Überwindung von Differenzen in den bilateralen Beziehungen vereinbart. Das Zusammenkommen in Istanbul ist so gesehen ein Ergebnis dieses Treffens. Bei den Gesprächen dürften zwei Themen besonders im Fokus der beiden Politiker stehen: Migration und Rüstungszusammenarbeit.

Migration als wichtiges Gesprächsthema

Beim Thema Migration hatte die Bundesregierung zuletzt betont, Türkiye habe Bereitschaft signalisiert, Abschiebungen künftig zu erleichtern. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) äußerte sich optimistisch über Fortschritte bei der Rückführung von Menschen nach Türkiye: „Wir arbeiten daran und ich bin zuversichtlich, dass wir in den kommenden Wochen Erfolge verzeichnen können.“

Schutzquote liegt bei 9,6 Prozent

In den ersten neun Monaten dieses Jahres haben 23.133 türkische Staatsangehörige einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Die Gesamtschutzquote, also der Anteil der positiv beschiedenen Anträge, lag jedoch nur bei 9,6 Prozent. Dies deutet darauf hin, dass Türkiye als sicherer und stabiler NATO-Partner angesehen wird, da ansonsten deutlich mehr Anträge türkischer Staatsangehöriger anerkannt würden.

Die geringe Anerkennungsquote verdeutlicht zudem, dass in den meisten Fällen keine stichhaltigen Gründe für eine Schutzbedürftigkeit vorliegen. Im Jahr 2023 wurden rund 1.300 türkische Staatsangehörige aus Deutschland abgeschoben, Ende April 2024 waren rund 14.500 Türken in Deutschland ausreisepflichtig. Viele von ihnen hatten nach der verheerenden Erdbebenkatastrophe im Jahr 2023 mit mehr als 53.000 Todesopfern Schutz in Deutschland erhalten und sind noch nicht ausgereist, obwohl ihre Visa längst abgelaufen sind.

EU-Türkiye-Abkommen mit vielen Vorteilen für Deutschland

Das Migrationsabkommen zwischen Türkiye und Deutschland, eingebettet in das EU-Türkiye-Abkommen von 2016, war ein wichtiger Meilenstein in der Migrationspolitik. Es sollte einerseits die unkontrollierte Migration nach Europa eindämmen und andererseits humanitäre Lösungen für die Flüchtlingskrise bieten.

Doch was bedeutet das Abkommen für Deutschland und Türkiye? Es hat zu einer spürbaren Reduzierung der Flüchtlingszahlen geführt. Seit dem Abkommen ist die Zahl der Geflüchteten, die über die Ägäis nach Europa kommen, deutlich zurückgegangen. Damit hat Deutschland als eines der Hauptzielländer eine gewisse Entlastung der Asylsysteme und eine Reduzierung des öffentlichen Drucks in der Migrationsdebatte erfahren. Dafür ist Deutschland der türkischen Regierung dankbar.

Eine Fortschreibung des Flüchtlingsabkommens wird immer wieder gefordert, da es für Deutschland viele Vorteile bietet. Gleichzeitig stärkt das Abkommen die Kontrolle der EU-Außengrenzen und gibt nicht nur Deutschland Möglichkeiten und Zeit, seine Kapazitäten auszubauen und sich besser auf künftige Herausforderungen vorzubereiten.

Türkiye erwartet seinerseits Visaerleichterungen für seine Touristen, Geschäftsleute und Künstler. Dieses Thema hat sich mittlerweile zu einer Dauerbaustelle in den bilateralen Beziehungen entwickelt.

Migrationsabkommen als Chance zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens

Nicht zuletzt stärkt das Migrationsabkommen die Zusammenarbeit und das in den vergangenen Jahren teilweise erschütterte Vertrauen zwischen beiden Ländern. Herausforderungen, die die bilateralen Beziehungen auf die Probe stellten, gab es so einige: die sogenannte Armenier-Resolution des Bundestages; die oft beklagte mangelnde Solidarität nach dem gescheiterten Putschversuch in Türkiye; der Abzug deutscher Soldaten vom Militärstützpunkt Incirlik; oder die Differenzen im östlichen Mittelmeer, in der Ägäis und in der Zypernfrage.

Türkiye gilt nach wie vor als Schlüsselakteur in der Region. Die Zusammenarbeit mit dem Land wird langfristig die Stabilität in der Region fördern und die EU zu einem wichtigen Akteur in einer neuen multilateralen Ordnung machen.

Flüchtlingsabkommen stellt Türkiye vor große Herausforderungen

Türkiye hält weiter an dem Abkommen fest – obwohl es mittlerweile eine der weltweit größten Flüchtlingspopulation (3,4 Mio.) beherbergt. Das belastet das türkische Sozialsystem, den Arbeitsmarkt und die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft. Innenpolitisch ist die Flüchtlingsfrage auch in Türkiye umstritten. Die Opposition polarisiert mit Thema – ähnlich wie in Deutschland – und versucht, mit anti-syrischen Ressentiments daraus Kapital zu schlagen.

Militär- und Rüstungskooperation als wichtiger Gesprächsbereich

Die geostrategische Gesamtlage hat sich sowohl für die EU als auch für Türkiye seit dem Russland-Ukraine-Krieg sowie dem Gaza- und Libanon-Krieg deutlich verändert. Europa und der Westen brauchen Türkiye in dieser angespannten Situation, um ein strategisches Gleichgewicht herzustellen.

Seit vergangenem Jahr strebt Türkiye den Kauf von mindestens 40 Eurofighter-Kampfflugzeugen an, deren Gesamtwert auf rund 5,6 Milliarden Dollar geschätzt wird. Die beiden Regierungschefs hatten dies bereits beim Besuch des türkischen Staatspräsidenten im November 2023 in Berlin angesprochen. Von diesem Geschäft würde auch die europäische und deutsche Rüstungsindustrie profitieren. Wegen des Widerstands der Bundesregierung kam es bisher jedoch zu keiner Einigung, was sich bald ändern könnte. Medienberichten zufolge wird der Wunsch von Türkiye, Eurofighter-Kampfflugzeuge zu kaufen, in Berlin derzeit wohlwollender geprüft.

Die Eurofighter werden von einem Konsortium aus Großbritannien, Deutschland, Italien und Spanien produziert. Akif Çağatay Kılıç, der außen- und sicherheitspolitische Chefberater von Präsident Erdoğan, sagte vergangene Woche, es gebe Fortschritte bei den Verhandlungen über den Eurofighter-Verkauf. Auch der türkische Verteidigungsminister Yaşar Güler hatte zuvor bekanntgegeben, dass Großbritannien und Spanien bereits zugestimmt hätten und man versuche, Deutschland von dem Geschäft zu überzeugen.

Kooperation statt Konfrontation

Doch die Nachricht, dass Vertreter aus den Produktionsländern der Kampfflugzeuge bereits in Türkiye eingetroffen sind und technische Gespräche aufgenommen haben, deutet darauf hin, dass einer Einigung nicht mehr viel im Wege steht. Der Westen will um jeden Preis verhindern, dass Türkiye, das sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland gute Beziehungen unterhält, noch näher an Russland und China heranrückt.

Einigen NATO-Staaten, allen voran den USA, geht die Rüstungskooperation zwischen Russland und der Türkiye zu weit. Die Aufhebung der Beschränkungen für Waffenverkäufe durch die USA und andere Verbündete nach dem grünen Licht Ankaras für den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands ist ein weiteres Indiz für die Entspannungspolitik zwischen dem Westen und dem NATO-Verbündeten Türkiye.

Die Erwartung, dass der Eurofighter-Verkauf einen Neuanfang in den Beziehungen mit dem Land am Bosporus markieren könnte, dürfte für Deutschland den Ausschlag für die neue Kooperationsbereitschaft gegeben haben. Auf eine Trendwende in der strategischen Partnerschaft mit Türkiye deutete auch die Nachricht hin, dass die Bundesregierung deutschen Waffenschmieden erstmals seit Jahren wieder den Export von Rüstungsgütern nach Türkiye in größerem Umfang erlaubt. Das berichtete der Spiegel unter Berufung auf den geheim tagenden Bundessicherheitsrat. Demnach geht es um deutsche Waffenlieferungen im Wert von mindestens 236 Millionen Euro.

Zusammenarbeit auf Augenhöhe

Das Treffen zwischen Scholz und Erdoğan hat großes Potenzial für einen Neuanfang in den Beziehungen zwischen Türkiye und Deutschland und es kann Türkiye noch stärker an das westliche Bündnis binden. Man muss nur wissen, dass man Türkiye auf Augenhöhe begegnen muss und nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen darf. Denn mit einer asymmetrischen Herangehensweise und unfairen Kooperationsangeboten mussten schon viele Politiker mit leeren Händen aus Istanbul und Ankara zurückkehren.

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