Die Würfel sind gefallen, Deutschlands Bundestagswahl 2021 ist gelaufen. Laut vorläufigem Endergebnis belaufen sich die Stimmanteile der Parteien wie folgt: die sozialdemokratische SPD 25,7%, die christdemokratische Union CDU/CSU 24,1%, Grüne 14,8%, die mitte-rechts-liberale FDP 11,5%, die rechtspopulistische AfD (Alternative für Deutschland) 10,3% und die Linke 4,9%. Damit liegt das Wahlergebnis erstaunlich nahe an den zuletzt veröffentlichten Umfragen, bei denen lediglich die CDU/CSU ein wenig unterschätzt und die Linke ein wenig überschätzt wurde. Dies lässt sich als Argument für den professionellen Entwicklungsstand von Wahlprognosen in Deutschland werten. Bei CDU/CSU zeigten sich im Endspurt einzelne Effekte, dass hier CDU und CSU nach außen hin das Gemeinsame betonten, mögliche interne Streitigkeiten zurückstellten und dass auch von der noch amtierenden Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mehr Unterstützung für den Spitzenkandidaten Armin Laschet kam. Ansonsten pflegte Merkel während des Wahlkampfes einen größtenteils parteipolitisch neutralen Stil. Sie war eben nicht Spitzenkandidatin, sondern Kanzlerin und damit vor allem Repräsentantin einer Regierungsinstitution. Aber Merkel gratulierte schlussendlich dem Spitzenkandidaten der SPD, Olaf Scholz, zu seinem Wahlsieg.
Mit Blick auf Wählerverschiebungen konnten Grüne, Sozialdemokraten und Liberale bei der Bundestagswahl 2021 Stimmen gewinnen, Rechtspopulisten und Linke mussten hingegen Stimmenverluste hinnehmen. Noch vor einiger Zeit geäußerte Befürchtungen, dass „die Bäume der Rechtspopulisten in den Himmel wachsen könnten“, diese Möglichkeit zerplatzte also wie eine Blase, zumindest an diesem Wahlabend. Bei der letzten „Triell“-Diskussion am 12. September hatte sich der Spitzenkandidat der SPD, Olaf Scholz gegenüber Armin Laschet von der CDU/CSU und Annalena Baerbock von den Grünen vergleichsweise am besten geschlagen. Wie Nachbefragungen ergaben, hätte Scholz eine Direktwahl zum Bundeskanzler gewonnen, kam am besten bei den Unentschlossenen an, verfügte über die größere Überzeugungskraft und galt als am glaubwürdigsten und kompetentesten. Baerbock hingegen lag vorne bei der Sympathie und der Vermittlung der größten Tatkraft. Konträr dazu konnte Laschet in keinem der abgefragten Bereiche gegenüber seinen beiden Mitbewerbern eindeutig punkten und ganz vorne liegen. Es ist natürlich eine Frage der Interpretation. Aber vielleicht verfolgte Laschet in den letzten Tagen seiner Kampagne überhaupt die Strategie, sich mehr hinter die „Sympathiewerte für die Marke CDU/CSU“ zu stellen, indem er unermüdlich vor den Gefahren eines rot-rot-grünen Bündnisses warnte, was in Deutschland eine Koalition von SPD, Linken und Grünen wäre.
Während am Wahlabend des 26. Septembers die ARD anfänglich noch zögerte, von einem Wahlsieg der SPD auszugehen, und in ihrer ersten Prognose SPD und CDU/CSU gleichauf einstufte, positionierte sich das ZDF gleich dahingehend, dass sie die Sozialdemokraten vorne sah. Die Verluste der CDU/CSU fielen mit einem Minus von 8,8% geradezu dramatisch aus. Es hatte zwar bereits Wahlen gegeben, bei denen die SPD die CDU/CSU überholen konnte. Doch in der gesamten Geschichte nach 1945 war es noch nie dazu gekommen, dass die CDU/CSU unter die Marke von 30% rutschte. Angesichts dessen überraschte es doch, dass Laschet noch am Wahlabend nach der Niederlage seinen Anspruch auf das Kanzleramt nicht aufgab.
Wirft man einen Blick auf Wählertrends, so fallen vor allem die demoskopischen Befunde nach Altersgruppen auf: Bei den über 60-Jährigen scheint die Welt für die Traditionsparteien noch intakt zu sein, mit einem geschätzten Wähleranteil für die SPD von 35% und für die CDU/CSU von 34%. Bei den unter 30-Jährigen hingegen beziffert sich der geschätzte Wähleranteil der Grünen auf 22% und jener der FDP auf 20%, während SPD auf 17% und CDU/CSU auf 11% fallen. Für Deutschland ergibt sich somit das Bild, dass sich nach Alter strukturiert zwei „politische Parallelwelten“ auszuformen beginnen. Das zeigt einerseits, wie wichtig die Rentner als Wähler für SPD und CDU sind. Andererseits kann die These gelten, dass unter den jüngeren Wählern die Grünen versuchen, sich als Nachfolgepartei für die SPD zu etablieren, und die FDP bestrebt ist, sich als politische Nachfolgerin der CDU/CSU zu verankern.
Nach der Wahl ist vor der Wahl oder: Nach der Wahl ist die Qual, was die Wahl für die folgende Koalition sein soll. Zwar hätte rechnerisch eine Kenia-Koalition aus SPD, CDU/CSU und Grünen eine deutliche Mehrheit. Aber realpolitisch können in Deutschland auf Bundesebene nur drei Koalitionsvarianten zum Zuge kommen. Eine Fortsetzung der großen Koalition von SPD und CDU/CSU, aber keiner der Akteure will das. Ferner hätte eine Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP eine Mehrheit, aber auch eine Jamaika-Koalition bestehend aus CDU/CSU, Grünen und FDP. Olaf Scholz von der SPD sieht das Mandat des Handelns im Sinne einer Beauftragung durch den Wahlsieg bei sich. Die Ampel-Koalition hätte den psychologischen Vorteil, von drei Wahlgewinnern getragen zu werden. In beiden dieser Varianten gibt es aber eine große Unbekannte, und die lautet: Wie kompatibel sind überhaupt die Politikvorstellungen von Grünen und FDP? Eine Befürchtung hier lautet: Kooperationsvorstellungen zwischen Grünen und Liberalen könnten platzen wie ein heißer Luftballon. Ein Szenario ist in Deutschland so gut wie auszuschließen im Sinne konventioneller Logik: Dass es zu Neuwahlen kommt, weil sich keine Koalition finden lässt. Die mögliche oder nicht-mögliche politische Schnittmenge zwischen Grünen und FDP wird letztlich den Ausschlag geben. Ist diese Menge zu gering, könnte es zu einer Fortsetzung der großen Koalition zwischen SPD und CDU/CSU kommen, obwohl das keiner möchte. „Stell dir vor, wir sind zur Wahl gegangen, und es hat sich nichts verändert?“ Der deutsche Koalitionspoker kann in noch viele Verlängerungen gehen.