Nachdem Gerhard Schröder 2005 sein Amt Angela Merkel überlassen musste, war klar, dass sich die deutsch-türkischen Beziehungen schwieriger gestalten würden. Merkel hatte sich im Gegensatz zu ihrem Vorgänger gegen den EU-Beitritt der Türkei gestellt. In den darauffolgenden Jahren sollten Ereignisse wie die Gezi-Proteste 2013 die Beziehungen zwischen den beiden Ländern erheblich erschweren. Unterstützt von anderen westlichen Ländern, sprach Merkel von „Menschenrechtsverletzungen“ in der Türkei. Diese Aussagen sollten sich in den darauffolgenden Jahren mehrfach wiederholen, vor allem bei den Bundestagswahlen 2017.
Die Türkei war wiederum nicht erfreut darüber, wie Deutschland mit den Terrororganisationen PKK und FETÖ umging. Nach dem Putschversuch von FETÖ 2016 konnte die Türkei keine Solidarität seitens der Merkel-Regierung erkennen. Stattdessen gewährte Deutschland fliehenden FETÖ-Anhängern Schutz und Unterstützung in seinen eigenen Landesgrenzen. Mit Hinblick auf die PKK kann man ähnliche Probleme beobachten. Obwohl Deutschland die PKK als Terrororganisation einstuft, können sich PKK-Anhänger ohne Einschränkungen in Deutschland organisieren.
Trotz dieser Probleme sollte man aber nicht die rationale Grundlage der Beziehungen außer Acht lassen. Die Flüchtlingskrise ist hier das beste Beispiel: EU und Deutschland kamen mit der Flüchtlingskrise 2015 nicht alleine zurecht. Die Türkei spielte eine Schlüsselrolle dabei, um eine wachsende Instabilität innerhalb der EU zu verhindern. Das Abkommen im März 2016 dämmte nicht nur den Zustrom weiterer Flüchtlinge in die EU, sondern verhinderte auch den Aufstieg rechtsextremer Parteien in ganz Europa.
Merkels letzter Besuch in der Türkei
Der Besuch von Merkel soll zeigen, wie wichtig die Türkei als Partner für Deutschland ist. Merkel stellte nicht umsonst bei ihrem Treffen mit Präsident Erdoğan die positiven Merkmale der deutsch-türkischen Beziehungen in den Vordergrund. Sie unterstrich die Bedeutung der Beziehungen beider Länder nicht zuletzt angesichts des Anwerbeabkommens vor 60 Jahren. Die Kanzlerin nannte als erfolgreiches Beispiel unter den 3 Millionen in Deutschland lebenden Türken die Entwickler des Biontech-Impfstoffes, Özlem Türeci und Uğur Şahin. Diese Aussage unterstreicht die Bedeutung der Rolle der türkeistämmigen Migranten in Deutschland in den deutsch-türkischen Beziehungen. Auch die Bekämpfung der Klimakrise führte Merkel als wichtiges Merkmal für die Partnerbeziehung mit der Türkei auf. Die Flutkatastrophe in Deutschland und die Waldbrände in der Türkei waren traumatische Ereignisse, die beide Länder in ähnlich großem Maße erschüttert haben. Merkel hat dies bei ihrem Besuch bewusst angesprochen, um gemeinsame Schnittpunkte zwischen der Türkei und Deutschland zu unterstreichen.
Des Weiteren sprach die Bundeskanzlerin über die Migranten aus dem Nahen Osten, die über die Türkei nach Europa fliehen. Merkel lobte auch hier die Türkei bei der Bekämpfung der Flüchtlingskrise. Auch hier wird deutlich, dass Deutschland auch in Zukunft mit der Türkei eine enge, wenn nicht sogar noch tiefergehende Kooperation fortführen wird. Deutschland ist sich bewusst, dass die EU immer weiter an Stabilität verliert (siehe Polen und Ungarn), weswegen man darin interessiert ist, mit Drittstaaten stabile Beziehungen aufrechtzuerhalten, um die Gesamtstruktur der EU nicht weiter zu gefährden. Falls Deutschland daran interessiert ist, mit der Türkei stabile Beziehungen zu erhalten, sollte man nicht nur gemeinsam die Flüchtlingskrise bekämpfen, sondern auch die Türkei in Libyen und vor allem in Syrien unterstützen.
Ampel-Koalition und zukünftige Beziehungen
Die Ampel-Koalition bestehend aus SPD, Grünen und FDP wird möglicherweise auf den ersten Blick mit der Türkei nicht so viele gemeinsame Schnittpunkte wie die Merkel-Regierung finden können. Jedoch sollte nicht vergessen werden, dass die SPD in drei von vier Perioden der Merkel-Ära mitregiert hat. Deutschland war unter SPD und Grünen während der Schröder-Fischer Regierung zwischen 1998 und 2005 äußerst wohlgesonnen gegenüber der Türkei eingestellt. Auch die persönlichen guten Beziehungen zwischen Schröder und Erdoğan sollten nicht unterschätzt werden.
Die Ampel-Koalition wird aller Voraussicht nach SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz führen. Scholz war zwischen 2002 und 2004 SPD-Generalsekretär und damit im engsten Kreis von Gerhard Schröder. Daher kann man durchaus erwarten, dass er ähnlich wie Merkel, wenn nicht sogar bessere Beziehungen zu Erdoğan und der Türkei aufbauen wird. Mögliche Probleme innerhalb der bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern können die beiden mitregierenden Parteien (Grüne und FDP) mitbringen. Die Grünen sind dabei deutlich distanzierter gegenüber der Türkei eingestellt als die FDP. Vor allem Grünen-Politiker wie Cem Özdemir und Claudia Roth bringen immer wieder ihre Anti-Türkei-Linie auf die Agenda, wodurch die Koalitionsregierung interne Streitigkeiten erleben wird. Dass die Grünen höchstwahrscheinlich den Außenminister bzw. die Außenministerin stellen werden, wird die deutsch-türkischen Beziehungen nur noch weiter erschweren.
Die FDP wird trotz ihrer minderen Rolle ebenfalls Mitspracherecht bei der Gestaltung der zukünftigen deutsch-türkischen Beziehungen haben. FDP-Chef Christian Lindner wird dabei eine gewichtige Rolle spielen. Lindner meinte schon vor den Wahlen in einem Interview, Erdoğan sei ein „Diktator“ und man könne mit der Türkei nur ohne Erdoğan kooperieren. Diesen Aussagen von Lindner sollte man jedoch nicht allzu viel Gewicht beimessen. Die FDP hatte zwischen 2009 und 2013 gemeinsam mit der CDU regiert und in dieser Periode bewiesen, dass man im Sinne deutscher Staatsinteressen handelt. Im Gegensatz zu den Grünen wird die FDP mit Blick auf die Türkei Entscheidungen auf rationaler Grundlage fällen.
Stabile Beziehungen von beiderseitigem Interesse
Die deutsch-türkischen Beziehungen werden auch in Zukunft aufgrund der türkischen Diaspora in Deutschland einen besonderen Stellenwert für beide Länder haben. Ein Regierungswechsel wird, solange keine radikale Partei an der Macht ist, die Beziehung nicht von Grund auf verändern. Merkel hat mit ihrem letzten Besuch symbolisiert, dass es nicht nur im Interesse der CDU, sondern im Interesse des deutschen Staates liegt, mit der Türkei eine enge Partnerschaft fortzuführen, wenn nicht sogar zu verbessern. Die Ampel-Koalition unter Olaf Scholz wird diese Linie fortsetzten wollen. Da die Regierung aber aus drei Parteien bestehen wird, werden interne Auseinandersetzungen unausweichlich. Es steht jedoch zu erwarten, dass sich vor allem die SPD durchsetzen wird und die beiden kleineren Parteien Kompromisse eingehen werden müssen, um die Stabilität der Regierung nicht weiter zu gefährden.