Für die Generation der 35- bis 40-Jährigen ist Merkel DIE Regierungschefin. Sie kennen nur die Langzeitkanzlerin. Ihr Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) hinterließ mit einem umfassenden Reformprogramm ein wohlbestelltes Haus, was er 2005 mit einer Wahlniederlage bezahlte. Jüngere fragen vielleicht, ob auch ein Mann in Deutschland Bundeskanzler werden kann. Der Spitzname „Mutti“ machte Merkel für viele zu einer Art Landesmutter, die unaufgeregt den Alltag verwaltet.
Die CDU ist nun anders
Mögliche Rivalen in ihrer Partei, der CDU, wusste sie auf die hinteren Bänke oder gar ganz ins politische Abseits zu verweisen. Die Erben Adenauers, für welche die D-Mark, konservative Gesellschaftspolitik und die BRD als stetes Wirtschaftswunder der Inbegriff von Deutschland waren, erlebten unter Merkel, wie ihre Partei immer mehr nach links rutschte. Rechts von ihrer bayerischen Schwesterpartei CSU machte sich dann ab 2013 die AfD breit, damals noch als eurokritische Partei, und zog ab der Migrationskrise 2015 Wählerstimmen der CDU an. Die Bundestagswahl im September kann sowohl eine Abstimmung über Migration als auch eine Art Plebiszit zum Weltklima werden. Die politische Handhabung der Pandemie und die Gesellschaftskrise scheinen nicht vorrangig zu sein. Die Wahl ist auch keine Abrechnung mit Merkel. Sie kandidiert nicht mehr.
Prüfungen und Entscheidungen
Im Rückspiegel der Geschichte betrachtet waren die Anfangsjahre für Angela Merkel frei von Problemen, blendet man den „Krieg gegen den Terrorismus“ und die Kriege der USA in Afghanistan, wo deutsche Soldaten auch 20 Jahre im Einsatz waren, und im Irak aus. Dass der US-Nachrichtendienst NSA Merkels Mobiltelefon kontrollierte und ihre intensive SMS-Korrespondenz mitlas, schien die überzeugte Transatlantikerin nicht zu erschüttern. Ihre Reaktion war: „Spionieren unter Freunden, das geht gar nicht.“ Weder wurden Diplomaten ausgewiesen, noch kam es zu Sanktionen.
Es folgten ab September 2008 die turbulenten Jahre der von den USA ausgehenden Finanzkrise, die nachfolgenden Rezessionen, die Euro-Rettungsschirme und der tiefe Nord-Süd-Graben in der EU. Ob Karikaturen in Griechenland oder Italien, Merkel wurde in den dortigen Medien wegen der harten finanziellen Vorgaben als Neuauflage der deutschen Wehrmacht, ja gar der NSDAP dargestellt und diffamiert. Es flogen die Fetzen in den nächtlichen EU-Gipfeln, die aber Merkel immer wieder zu glätten verstand. Bloß das Problem der deutschen Exportüberschüsse und der niedrigen Löhne in Deutschland ging ihre Regierung in jener Zeit nicht an. Deutschland erklärt vielmehr dem Rest der EU, wo es langgeht. Über ein EU-Gesamtziel, wie es Paris sucht, spricht in Berlin aber niemand. Und Merkel trat in dieser Vorgabe des Kurses nicht so polternd auf, wie es vielleicht andere machen. Dabei hätte auch Berlin sehr viele EU-Hausaufgaben zu erledigen; Klassenbester ist Deutschland schon lange nicht mehr.
Als Merkel im März 2011 binnen Stunden nach dem AKW-Unfall im japanischen Fukushima den Ausstieg Deutschlands aus der Atomkraft verkündete, entschied sie dies im Alleingang. Sie informierte nicht einmal ihren damaligen Kollegen in Paris oder in anderen Nachbarstaaten über die deutsche Energiewende, die immerhin das gesamte transnationale europäische Stromnetz betrifft. Die damaligen Ankündigungen über Investitionen, die mit rund einer Billion Euro und der Errichtung von 3000 Kilometer Stromautobahnen geplant waren, sind ein Jahrzehnt später kaum verwirklicht. Die deutschen Energieversorger steigen zwar aus vielem aus, aber in wenig ein. Wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht bläst, dann fehlt so mancher Plan B für die Stromversorgung. Die große Schwachstelle ist aber das Stromnetz, an welches nun auch die E-Autos gesteckt werden sollen.
Die Autokanzlerin
Wie alle deutschen Kanzler war und ist auch Merkel eine Autokanzlerin, die sehr lange für die mächtige deutsche Automobilindustrie bei Emissionsgrenzen Ausnahmen aushandelte. Diese Industrie steht immerhin für 55 Prozent des deutschen Exportüberschusses, wie ich in meinem Buch „Die Mobilitätswende“ (Wien 2020) erläutere. Mit dem nun laufenden Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor verändert sich vieles. Ob der Green Deal ein Blackout provoziert, ob die verlorenen Arbeitsplätze neu geschaffen werden können und wie es überhaupt mit der deutschen Autoindustrie in China, wo wesentliche Umsätze erfolgen, weitergeht – all das wird nicht mehr ihr Problem sein. Es sei denn, die Ex-Kanzlerin bleibt in diesem Bereich als Mittlerin tätig.
Die Macherin
Denn bei aller Kritik, die Merkel wegen ihrer vielen Alleingänge, so auch in der Migrationskrise im Herbst 2015, einstecken musste, hat sie doch hinter den Kulissen in alle Richtungen vermittelnd gewirkt. In den 16 Jahren politischen Wirkens hat sich ein Verhältnis des politischen Vertrauens – mit einer gewissen Handschlagqualität – mit Moskau, Ankara und Peking aufgebaut. Sie tritt heute anders in Washington auf, vielleicht selbstständiger, wenn es um Pipelines und Sanktionen geht. Wer immer ihr nachfolgt, muss sich erst durch das provinzielle Dickicht der deutschen Außenpolitik einen Weg bahnen, um dann auf Augenhöhe mit den anderen Akteuren zu verhandeln. Doch oft genug übernahm sie nicht die Themenführerschaft.
Die Getriebene
Der Journalist Robin Alexander brachte die Situation des Sommers 2015 in seinem dokumentarischen Buch „Die Getriebenen“ auf den Punkt. Merkel war von vielen Bildern getrieben. So wurde sie als „Eiskanzlerin“ tituliert, weil sie in einer PR-Situation mit einem Flüchtlingskind vielleicht zu ehrlich argumentierte, um wenige Tage später die Volte zu machen. „Wir schaffen das“ wurde zum Mantra offener Grenzen und einer unbekannten Zahl von Zuwanderung. Es folgte ein Ost-West-Graben in Migrationsfragen, der heute noch tiefer ist.
Das Systemversagen einer maroden Infrastruktur neben vielen gesellschaftlichen Brüchen wird ihr nach 16 Jahren zum Vorwurf gemacht. Zeit und Mittel hatte sie, um Deutschland zu modernisieren – aber mehr wurde verwaltet als gestaltet. Es wurde am falschen Ende gespart, um da und dort die Welt zu retten.
In der COVID-Krise verstand es Merkel, die föderale Zersplitterung irgendwie in den Griff zu bekommen. Ihr Satz „Die Pandemie ist eine demokratische Zumutung“ zeugt von einem Verständnis für das Dilemma, das vielen jüngeren Regierungschefs fehlt, die sich über die Machtfülle freuen.
Über die Ära Merkel werden noch Bücher erscheinen und Seminare gehalten. Merkel kann jedenfalls an ihrem Vermächtnis als Ex-Kanzlerin noch feilen, sie hat nun mehr Radius dafür, falls sie daran Interesse hat.