Es war eines der größten Versprechen der Ampelkoalition nach dem Wahlsieg bei der Bundestagswahl 2021: Die Erstellung einer Nationalen Sicherheitsstrategie. Das 76-seitige Dokument mit dem Titel „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland“ wurde schließlich am Mittwoch (14. Juni) auf einer gemeinsamen Pressekonferenz von Bundeskanzler Olaf Scholz und weiteren Ministern vorgestellt. Wichtig dabei: Es handelt sich um die „erste“ Nationale Sicherheitsstrategie von Deutschland. Das Dokument steht im Zeichen einer „integrierten Sicherheit“. Die Bundesregierung will alle verfügbaren Instrumente – militärische, wirtschaftliche, diplomatische, und technologische – einsetzen, um eine ressortübergreifende Sicherheitskonzeption für Deutschland zu schaffen. Was hat sich also nun geändert, dass Deutschland plötzlich eine Nationale Sicherheitsstrategie benötigt, wo es doch zuvor keine gab?
Aktualisierte Sicherheitsparadigmen in der Welt
Die Nationale Sicherheitsstrategie beschreibt ein neues Sicherheitsumfeld. „In Europas Nachbarschaft beeinträchtigen Kriege, Krisen und Konflikte die Sicherheit Deutschlands und Europas. Fragile Staaten werden zu einem Entstehungs- und Rückzugsort des Terrorismus; innere Konflikte greifen auf andere Staaten über“, heißt es. Neben dem Terrorismus würden auch Organisierte Kriminalität, illegale Finanzflüsse, Cyberangriffe zunehmen, die Energieversorgung sei gefährdet. Selbst Wirtschafts- und Finanzbeziehungen hätten eine sicherheitspolitische Dimension, ebenso Klimakrise, Krankheiten, Armut und Hunger.
Die Strategie, die von einer „Welt im Umbruch“ spricht, zeigt somit schon zu Beginn auf: Sicherheit ist nicht mehr nur aus militärischer Sicht zu verstehen, sondern hat weitere Dimensionen. Dabei greifen all diese Dimensionen ineinander und können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Genau das macht eine umfassende neue Strategie nötig.
Neudefinition von internationalen Akteuren und Notwendigkeit für mehr Kooperation
Das neue Sicherheitsumfeld macht zudem eine Neuausrichtung gegenüber wichtigen internationalen Akteuren notwendig. In erster Linie handelt es sich hier um Russland und China. „Das heutige Russland ist auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum“, wird unterstrichen. Kurz danach geht es um China: „In dieser internationalen Lage ist China Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale.“ Zu China will die Ampelkoalition übrigens später noch ein separates Strategiepapier nachreichen. Gründe für die Neudefinition dieser Akteure sind der Ukraine-Konflikt sowie die wachsende politische, militärische und wirtschaftliche Bedeutung Chinas für die Welt.
In der Sicherheitsstrategie Deutschlands wird auch die Rolle von verstärkter internationaler Kooperation mit „einer Vielzahl an verlässlichen Partnern und Verbündeten“ hervorgehoben. Nur so könne man Abhängigkeiten reduzieren. Man wolle bilaterale, EU-weite und multilaterale Kooperation intensivieren und ausbauen. Tatsächlich können starke Abhängigkeiten zu sicherheitspolitischen Bedrohungen führen und die politische, diplomatische sowie wirtschaftliche Manövrierfähigkeit eines Landes stark einschränken. Das haben gerade der Ukraine-Konflikt und die deutsche Energieabhängigkeit von Russland gezeigt. Genau deshalb muss die internationale Zusammenarbeit diversifiziert werden, um mehr Ausweichmöglichkeiten zu haben und weniger anfällig für abhängigkeitsbedingte politische Erpressungen zu sein.
Neue Herausforderungen machen neue Sicherheitsstrategie notwendig
Migration und Cyberkriegsführung zählen zu den großen Herausforderungen der letzten Jahre. Flucht- und Migrationsbewegungen könnten „staatliche Stabilität und gesellschaftlichen Zusammenhalt in Transit- und Aufnahmegesellschaften gefährden“, heißt es in dem Bericht. Eine „geregelte Zuwanderung“ jedoch bereichere Deutschland. Bei Migration handelt es sich um ein komplexes Thema, das die europäische und deutsche Politik angesichts Sicherheitsbedenken mit immer heikleren Debatten beschäftigt.
„Die Bundesregierung wird regelwidriges und aggressives Verhalten von Cyberakteuren nicht hinnehmen, die Cybersicherheitsarchitektur modernisieren und ihre Fähigkeiten zur Abwehr von Cyberangriffen stärken“, versichert die Strategie außerdem. Besonders im Hintergrund des Ukraine-Konflikts gab es immer wieder Berichte zu Cyberoperationen in Europa. Doch nicht nur das: Auch im Cyberraum müssen Recht und Gesetz für Privatpersonen gelten. Der technologische Fortschritt im Cyberraum schreitet unaufhaltsam fort und erstreckt sich in alle Lebensbereiche. Der Umgang muss daher zwangsläufig in eine umfassende Strategie eingebettet werden.
Nationale Sicherheitsstrategie strebt nach „integrierter Sicherheit“
Die schwierige und teils prekäre Lage der Bundeswehr bei Ausrüstung und Munition zeigt: Deutschland hat seine Verteidigung und Sicherheit zu lange vernachlässigt und lieber auf Verbündete wie die Vereinigten Staaten vertraut. Erst der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland hat Berlin gewissermaßen wachgerüttelt und gezeigt, dass man nicht nur auf einen Verbündeten bauen sollte. Ferner müssen die Mitglieder der NATO selbst stark sein, damit die NATO kräftiger auftritt. Die Stärke eines Bündnisses entspringt schließlich der Stärke ihrer Mitglieder. Auch hat der Ukraine-Konflikt gezeigt, dass man selbst mitten in Europa fern von aktiven Kriegsregionen wie im Nahen Osten nicht sicher vor militärischen Bedrohungen ist. Die Realität von Sicherheitsbedrohungen und der Notwendigkeit einer klaren, umfassenden Verteidigungsstrategie ist nun auch in Deutschland angekommen. Hier setzt die Bundesregierung mit der Nationalen Sicherheitsstrategie an.
Bei der Strategie der Bundesregierung wird die Landes- und Bündnisverteidigung – sei es an Land, in der Luft, auf der See, oder Cyber- sowie Weltraum – als oberste sicherheitspolitische Aufgabe definiert. Doch das kostet Geld: Auch darum geht es in der Strategie. Die Bundesregierung bekennt sich im Dokument zu dem Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Darüber hinaus geht es um eine verlässliche Verteidigungsindustrie, eine verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik, einen größeren Einsatz für euroatlantische Sicherheit und die deutsche Führungsrolle in Europa sowie die Mitgestaltung der internationalen Ordnung.
Bedeutet die Nationale Sicherheitsstrategie sofort mehr Sicherheit?
Große Umbrüche oder Überraschungen gibt es in dem Dokument nicht. Im Gesamtbild werden im Dokument lediglich unzählige Einzelvorhaben aufgezählt und bereits bekannte Tatsachen sowie Positionen aufgelistet. Das geplante Highlight des Papiers, der Nationale Sicherheitsrat, wurde nicht umgesetzt. Das ist womöglich eine der größten Lücken der Nationalen Sicherheitsstrategie. Ein neues Organ, das im Rahmen einer neuen Strategie zur Verteidigung verbindliche Vorgaben machen, Beschlüsse fassen und zwischen verschiedenen Ressorts koordinieren kann, fehlt. Und das, obwohl sich ohnehin immer wieder Meinungsverschiedenheiten in der Ampel ergeben. Die Abwesenheit des Nationalen Sicherheitsrats bedeutet, dass eine relevante Instanz fehlt, die die Umsetzung des Dokuments betreut. Zwar ist die Rede von „integrierter Sicherheit“, doch ein Organ, das diese Integration vollziehen wird, ist nicht vorhanden.
Zudem fehlt auch die Beantwortung der Frage zur Finanzierung. In dem Dokument wird einzig erwähnt, man wolle im Rahmen von NATO-Vorgaben mehr für die Verteidigung ausgeben. Ein umfassender Plan, wie die Strategie mit dem Haushalt kombiniert und somit aus finanzieller Sicht umsetzbar gestaltet werden soll, fehlt. Das Finanzierungsthema ist im Punkt 2-Prozent-Ziel mit Aussagen wie „mehrjähriger Durchschnitt“ nur vage formuliert und lässt viel Spielraum für Interpretation. Das Papier listet zwar Ziele auf, doch was zählt, ist die Umsetzung. Institutionelle Veränderungen und ein Wandel bei internen Prozessen, die dies sicherstellen würden, fehlen in der Nationalen Sicherheitsstrategie. Auch wird die Frage, wie nun garantiert werden soll, dass das Dokument auch befolgt wird, nicht beantwortet. Diskussionsrunden im Bundestag und regelmäßige Berichte der Bundesregierung wären hier angebracht.
Der Nationalen Sicherheitsstrategie fehlt es an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft
Das Papier der Ampel gibt eine Richtung vor, hängt aber gewissermaßen in der Luft. Entscheidende Schritte, die die Strategie angesichts ihrer Umsetzung glaubwürdig abrunden würden, sind nicht benannt. Wie wird man die Strategie finanzieren? Wie will man die Verteidigungsindustrie verlässlicher machen? Wie genau will man einen größeren Einsatz für die euroatlantische Sicherheit bewerkstelligen? Wird es Mechanismen zur Kontrolle der Befolgung des Papiers geben? Wie soll die Bundeswehr genau gestärkt werden? Unter anderem über diese Fragen wird wenig verraten. Man verstärke Anstrengungen, damit Deutschland frei und sicher bleibe, heißt es etwa, doch das „Wie“ wird nicht beantwortet.
Das Hauptproblem der Nationalen Sicherheitsstrategie sind daher die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Diese ist notwendig, aber um überzeugen zu können, müssen die einzelnen Bereiche viel tiefer beleuchtet werden. Erfahrungen aus der Vergangenheit lassen zudem zweifeln, ob die Strategie ihre Wirkung entfalten wird. Ähnliche, allerdings weniger umfangreiche Dokumente, die in den vergangenen Jahren erstellt wurden, schafften es nicht, eine große Änderung herbeizubringen. Die Ampel muss ihre Strategie ohne Zweifel besser erklären. Die Ursachen der Bedrohungslagen müssen gezielt beschrieben und Maßnahmen abgeleitet werden. In dieser Form ist die Nationale Sicherheitsstrategie lediglich ein umfassender Lagebericht.