Die Grenzen der Leidensfähigkeit einer komplizierten Beziehung zwischen zwei Staaten können am Beispiel der deutsch-türkischen Beziehungen eindrucksvoll illustriert werden, insbesondere seit dem gescheiterten Putsch in der Türkei am 15. Juni 2016. Auf beiden Seiten wurde so viel politisches Porzellan zerschlagen, dass eine auf Vertrauen und Dialog basierende bilaterale Kooperation nicht möglich erschien. Das Handbuch der Krisenkommunikation lag offenbar nicht in den Schubladen der beiden Regierungen.
Eine positive Wende in den bilateralen Beziehungen erfolgte mit der erfolgreichen Umsetzung des EU-Türkei-Flüchtlingspakts vom März 2016, der zur Deeskalation der europäischen Flüchtlingskrise beitragen konnte. Das geostrategische Gewicht der Türkei wurde zusehends in den europäischen Hauptstädten spürbar, umso mehr mit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine.
Die politischen Konsultationen zwischen Ankara und der neuen Ampelkoalition in Berlin werden nicht einfach sein. Die Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen bleibt ein geeignetes Vehikel, um eine substantielle Vertrauensgrundlage zu schaffen.
Paradigmenwechsel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik stellt Weichen zur Vertiefung der Türkei-EU-Beziehungen
Es war nicht nur Pathos, als Bundeskanzler Scholz in seiner historischen Regierungserklärung zum Ukraine-Krieg von einer Zeitenwende sprach, die mit dem russischen Angriffskrieg gegen Ukraine begann. Gleichwohl bedeutet es eine Bestätigung der düsteren Zäsur für das ohnehin lädierte internationale System, das auf einer regelbasierten Weltordnung beruht. Die Konsequenz daraus für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ist die Neuinterpretation des sicherheitspolitischen Nachkriegs-Paradigmas einer von der historischen Schuld bedingten militärischen Zurückhaltung mit der Folge einer massiven Investition in die militärischen Kapazitäten der Bundeswehr sowie direkten Waffenleferungen an die Ukraine. Die Bundesregierung hat verstanden, dass „si vis pacem, para bellum“ (Wörtlich übersetzt: „Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor“) die Ausgangssituation für mögliche Lösungsansätze zur Deeskalation oder gar Beendigung von Kriegen schaffen kann.
Diesen sicherheitspolitischen Schwenk hat die Türkei vor Jahren vollzogen, indem sie ihre militärische Stärke ausgebaut und diese in Kombination mit diplomatischer „Softpower“ zur Konfliktlösung in Regionalkrisen einzusetzen pflegt. Aktuell vermittelt die Türkei mit ihrem aktiven allparteilichen Ansatz im Krieg in der Ukraine. Derzeit stehen die türkischen Vermittlungsbemühungen hoch im Kurs. Die Haltung der Türkei zum Krieg in der Ukraine kann nicht als neutral gedeutet werden, denn sie beliefert die Ukraine mit Waffen und verurteilt den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands. Andererseits verhängt sie keine Sanktionen gegen Russland, hält den Luftraum offen, schließt aber den Bosporus für Kriegsschiffe. Diese komplizierte, aber strategisch wohlüberlegte, äquidistante Haltung ermöglicht es der Türkei, als glaubwürdige Vermittlerin aufzutreten. So konnte zum ersten Mal auf der Ebene der Außenminister ein trilaterales Treffen in Antalya zustande kommen.
Genau hier setzt auch der Antrittsbesuch des Bundeskanzlers Scholz in Ankara an. Er dient u.a. dem Zweck des Einfließens der Positionen der Bundesregierung und der EU in die Vermittlungsbemühungen der Türkei. EU, Deutschland und Türkei ziehen seit geraumer Zeit zum ersten Mal an einem Strang. Den zerrütteten Türkei-EU-Beziehungen wird Leben eingehaucht. Die jüngste diplomatische Initiative der Türkei zur bilateralen Annäherung mit Griechenland, Israel und Armenien wird zweifellos diese positive Dynamik in den EU-Türkei-Beziehungen verstärken. Die ausdrückliche Begrüßung dieser Entwicklung durch Bundeskanzler Scholz wird die Entfaltungsmöglichkeiten der EU-Türkei-Beziehungen nachhaltig stützen. Insofern wird das deutsche Regierungshandeln in der Türkeipolitik mehr von der normativen Kraft des Faktischen und somit von geostrategischen Realitäten „on the ground“ gelenkt werden als viel weniger von der zu kurz formulierten Türkeipolitik im Koalitionsvertrag.
Comeback der Türkei in die Sicherheitsarchitektur und Wirtschaftsstruktur der EU?
Mit der Gründung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) in der EU im Jahr 2017, die eine Einbeziehung von Nicht-EU-Ländern in die Verteidigungsstruktur vorsieht, bietet sich eine Gelegenheit, die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und der EU im Bereich Sicherheit und Verteidigung wiederzubeleben. Die Aufnahme der Türkei in PESCO und EDF ist kein Selbstzweck, sondern fördert die Vertiefung der Sicherheits- und Verteidigungszusammenarbeit zwischen NATO und EU sowie in Krisenregionen.
Modernisierung der Türkei-EU-Zollunion:
Seit 26 Jahren ist die Zollunion (CU) ein Eckpfeiler der Handelsbeziehungen zwischen der EU und der Türkei. Insbesondere in Zeiten der Krise in der globalen Produktions- und Lieferkette kann die Türkei als Drehkreuz für Handelswege die Resilienz der Wirtschafts- und Handelsstruktur der EU nachhaltig stärken. Das bestehende Regelwerk der Zollunion ist überholt. Folglich fordert die Türkei die Modernisierung der Zollunion mit dem Argument, dass dadurch eine weitere Anpassung der Türkei an die EU-Wirtschaftsstruktur beschleunigt und damit die Dynamik des türkischen Beitrittsprozesses belebt werden kann.
Türkei-EU-Green Deal: Gemeinsamer Kampf gegen den Klimawandel
Der Green Deal – eine Reihe von EU-Politikinitiativen, um Europa bis 2050 klimaneutral zu machen – kann eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei schaffen, um auf das Ziel der Klimaneutralität hinzuarbeiten. Darüber hinaus ist es sogar zwingend erforderlich, dass beide Seiten miteinander kooperieren, weil der CO2-Grenzausgleichsmechanismus (Carbon Border Adjustment Mechanism – CBAM) der EU eine entscheidende Komponente des Green Deal ist und den Handel zwischen der Türkei und der EU auf die eine oder andere Weise beeinflussen wird.
Schlussfolgerungen
Inmitten der Pandemiekrise und des russischen Angriffskriegs in der Ukraine versucht die EU, ihre Resilienz zu stärken, indem sie sich um strategische Autonomie in ihrer Handels-,
Außen- und Sicherheitspolitik bemüht. Zweifellos kann die Intensivierung der Kooperation mit der Türkei hierbei einen entscheidenden Beitrag leisten.
Der Antrittsbesuch von Bundeskanzler Scholz in Ankara lässt die Hoffnung zu, dass die bilateralen Beziehungen im Fahrwasser zahlreicher Krisen von einem kooperativen Geist getragen werden. Vorausgesetzt, dass in heiklen politischen Streitfragen das Handbuch der Krisenkommunikation zur Hand sein wird.
In diesem Sinne taugt das Zitat „Politik braucht Gespür für das Machbare, auch für das dem anderen Zumutbare” des verstorbenen Kanzlers der Einheit, Dr. Helmut Kohl, als perspektivischer Leitfaden für die weitere Zukunft der bilateralen deutsch-türkischen Beziehungen mit Ausstrahlungskraft weit hinein in die EU.