Die Türkei ist schon seit Jahrhunderten ein Zufluchtsort für Menschen, die gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben wurden, und zwar ohne Unterscheidung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. So emigrierten im 15. Jahrhundert sephardische Juden, die in Spanien unterdrückt wurden, in das Osmanische Reich. Und im 20. Jahrhundert fanden europäische Juden, die vor der Nazigewalt flohen, sicheren Unterschlupf in der Türkei. Doch diese hilfsbereite Einstellung wird meist ignoriert oder nicht weiter beachtet. Bestes Beispiel hierfür sind die 3,6 Millionen Menschen aus Syrien, die ihr Land verlassen mussten und in die Türkei kamen.
Laut Bericht der Flüchtlingskommission der Vereinten Nationen, beheimatete die Türkei im Jahr 2018 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge. Dass die erste Wahl der Flüchtlinge, die vor der Unterdrückung des Assad-Regimes und der Gewalt der Daesh flohen, auf die Türkei fiel, ist deren historischer Willkommenskultur geschuldet.
Juden, die von Deutschland in die Türkei flüchteten
Die Mitte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts markierte insbesondere für Juden in Deutschland aufgrund der Maßnahmen des Naziregimes den Beginn einer fürchterlichen Periode. So suchten viele erfolgreiche Akademiker einen Ort außerhalb Deutschlands, an dem sie ihr Leben und ihre Karriere fortsetzen konnten, nachdem die Nazis damit begonnen hatten, ihre Gegner und jüdische Akademiker an den Universitäten nach und nach auszusortieren.
Dass sich diese Entwicklungen in Europa mit den ersten Bemühungen der damals noch jungen Republik Türkei überschnitten, das Hochschulwesen zu reformieren, erwies sich als erlösender Ausweg für die oben erwähnten Wissenschaftler. So fiel es auch jüdischen Wissenschaftlern nicht schwer, sich für die Türkei zu entscheiden, da die dortige Willkommenskultur seit den Osmanen bekannt war. Die Republik Türkei, deren Modernisierungsstrategie sich nach westlichem Vorbild vollzog, nahm die in Deutschland in Schwierigkeiten geratenen Menschen mit offenen Armen auf.
Reform an den Universitäten
Das Gesetz mit der Nummer 2252 zur Gründung moderner Universitäten wurde 1933 von der Großen Türkischen Nationalversammlung verabschiedet. Der Ruf nach Reformen wurde lauter, da die vom Osmanischen Staat hinterlassene Lehranstalt Darulfünun (Haus der Wissenschaft, ehemalige Universität Istanbul) den Anforderungen der Zeit nicht mehr gerecht werden konnte. Prof. Albert Malche, Experte für Pädagogik an der Schweizer Universität Genf, wurde eigens dafür in die Türkei eingeladen, um ein Gutachten über die damalige Darulfünun zu verfassen.
Parallel zu diesen Entwicklungen in der Türkei wurde in Deutschland eine Woche nach dem 1. April 1933, an dem der Boykott gegen jüdische Geschäfte begann, das Gesetz „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verabschiedet. Dieses Gesetz war Ausgangspunkt eines schrecklichen Prozesses, der zunächst zum Verlust der Beschäftigung und der Staatsbürgerschaft führte und später in einer beispiellosen Katastrophe endete. Während also in Deutschland viele Wissenschaftler entlassen wurden, erwog die Türkei, diese Menschen für die anstehenden Universitätsreformen zu gewinnen.
Beiträge ausländischer Wissenschaftler zur Gründung moderner Universitäten in der Türkei
Die Republik Türkei nahm tausende Menschen aus Deutschland auf, neben geflüchteten Professoren, Lehrern, Ärzten, Juristen, Künstlern und Laborassistenten auch Angehörige weniger renommierter Berufe, die ab den 1930er Jahren vor der Nazigewalt flohen.
Die Türkei unterzeichnete am 6. Juli 1933 mit einem Teil der aus Deutschland aufgenommenen Wissenschaftlern eine Vereinbarung. Der Großteil der Akademiker kam mit Familie und sogar mit Assistenten in die Türkei. Diese Akademiker, die dann an verschiedenen Fakultäten der Universität Istanbul lehrten, spielten eine wichtige Rolle bei der Ausbildung namhafter Wissenschaftler und trieben die wissenschaftliche Forschung voran.
Der berühmte Chirurg Rudolf Nissen, der mit der ersten Gruppe in die Türkei kam, initiierte wichtige Studien an der Medizinischen Klinik Cerrahpasa. Im Alter von 37 Jahren wurde er 1933 als nichtbeamteter Professor zum Direktor der Ersten Chirurgischen Klinik der Medizinischen Fakultät der Universität Istanbul bestellt. Bis Ende 1939 leistete er mit neuen Operationstechniken und der Ausbildung von Chirurgen an der Chirurgischen Klinik Cerrahpasa einen wichtigen Beitrag zur Chirurgie in der Türkei.
Alfred Isaac, Professor an der Polytechnischen Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Nürnberg, lehrte von 1937 bis 1951 Betriebswirtschaftslehre an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Istanbul. Walter Gottschalk, der zwischen 1923 und 1935 Präsident der Orientabteilung an der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin war, spielte eine maßgebliche Rolle bei der Katalogisierung der Handschriftensammlungen und Bücher an der Universitätsbibliothek Istanbul und war somit Vorreiter bei der Entwicklung des modernen Bibliothekswesens in der Türkei.
Ernst Reuter, der Vorlesungen über Stadtplanung hielt, kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg zurück nach Deutschland und war zwischen 1948 bis 1953 sogar Bürgermeister von Westberlin. Auch Albert Einstein wurde dazu eingeladen, an der Universität Istanbul zu forschen, lehnte das Angebot jedoch ab, weil er am Institute for Advanced Studies in Princeton zum Professor ernannt wurde.
Auch an der Universität Ankara leisteten jüdische Akademiker wertvolle Dienste. Neben dem Assyriologen Denno Lansberger übernahm der Hethitologe Hans Güterbock die Pionierarbeit bei den archäologischen Ausgrabungen in der Türkei und trug zur Entwicklung der Archäologie als Wissenschaft bei. Der Philologe Georg Rohde bildete einerseits türkische Philologen aus und war andererseits unter Leitung des damaligen türkischen Bildungsministers, Hasan Ali Yücel, maßgeblich an Übersetzungen der Weltklassiker in die türkische Sprache beteiligt, die bis heute als Sondereditionen herausgegeben werden.
Die damals erwiesenen Dienste jüdischer Akademiker in der Türkei erbrachten wichtige Beiträge für das ganze Land. Dennoch wurden insbesondere in den letzten Jahren Flüchtlinge vor allem in europäischen Staaten als Last angesehen. Laut einer Studie des PEW-Forschungszentrums aus dem Jahr 2019 empfinden 35% der europäischen Gesellschaften Flüchtlinge als Belastung.
Diese populistische und in Teilen rassistische Perspektive ignoriert das Potenzial der Einwanderer und, mehr noch, macht diese zur Zielscheibe. Türken in Deutschland wurden viele Male Opfer von Gewalt, die sich aus diesem verqueren Verständnis speiste. Populistische und rassistische Parolen verbreiten sich nach und nach in der Gesellschaft und gefährden dadurch ein harmonisches Zusammenleben.
Der Aufstieg rechtsextremer Parteien bei Wahlen in vielen Teilen Europas zeigt, dass die Bedenken hinsichtlich der oben erwähnten Entwicklungen nicht unbegründet sind. In dem von den Vereinten Nationen herausgegebenen Bericht „Berichterstattung über die Flüchtlings- und Einwanderungskrise in der EU: Inhaltliche Analyse in fünf europäischen Staaten“ wurde festgestellt, dass die Rolle der Medien bei der Verbreitung von Hassparolen gegen Einwanderer unbestreitbar ist.
Die heute vorherrschende Meinung, wonach Migranten den Einwanderungsgesellschaften Schaden zufügen würden, wird allein schon bei der Betrachtung der geleisteten Beiträge jüdischer Akademiker in der Türkei widerlegt, da diese für Wissenschaft, Kunst und viele weitere Bereiche Großartiges geleistet haben.
Ein Beispiel hierfür ist Rudolf Nissen, der an der Medizinischen Fakultät Cerrahpasa eine als „Nissen Fundoplikatio“ bekannt gewordene bahnbrechende Operationstechnik entwickelte. Diese hatte großen Stellenwert für die wissenschaftliche Weiterentwicklung in der Türkei und der ganzen Welt. Dementsprechend dienen die Wissenschaftler Uğur Şahin und Özlem Türeci an der Spitze des Forschungsteams, das den Impfstoff gegen das Covid-19-Virus entwickelt hat, als Beispiel dafür, dass Migration nicht nur einen simplen Ortswechsel darstellt, sondern auch das Potenzial in sich birgt, den Austausch von Ideen und sogar Erfindungen zu befördern und somit das Leben zahlloser Menschen zu berühren.