Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Pӑun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov.
Diese Menschen wurden am 19. Februar 2020 in Hanau ermordet. Viele der Opfer hatten ausländische Wurzeln. Diese waren afghanisch, bosnisch, bulgarisch, kurdisch, rumänisch, türkisch. Eine der Ermordeten war eine deutsche Romni.
Vor seiner Tat verbreitete der Mörder im Internet rassistische, islamfeindliche und antisemitische Ansichten sowie Verschwörungserzählungen. Unter anderem vertrat er die Ansicht, dass nicht alle Menschen mit deutschem Pass „ethnische Deutsche“ seien. Er wählte seine Opfer bewusst und gezielt aus, weil sie in seinen Augen nicht das verkörperten, was in seinen verblendeten Augen deutsch genannt werden dürfe.
Das Übliche
Nach der Tat kam fast alles wie fast immer. Eine spontane Welle der Empörung, Wut und Trauer durchlief das Land. Tafeln mit den Namen der Mordopfer, ihren Bildern und Informationen über sie wurden aufgestellt. Politiker sagten die Worte, die man von Politikern in solchen Situationen erwartet. Einige versprachen, man werde sich dem in Deutschland grassierenden Rassismus entgegenstellen, mit aller Kraft. Dann wechselte die Tagesordnung. Das Thema ging im globalen Medienrausch unter, wir haben schließlich andere Probleme.
Seit dem Mordanschlag von Hanau hat sich in Deutschland, was die Bekämpfung von Rassismus in seinen verschiedenen Spielarten (Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Gadjé-Rassismus und so weiter) betrifft, rein gar nichts geändert. Wenn man ehrlich ist, hat sich in dieser Hinsicht nach überhaupt keinem rassistischen Mordanschlag seit der Wiedervereinigung etwas geändert, im Gegenteil.
Zweierlei Maß?
Bezeichnenderweise war der rassistische Mord, der die wohl schärfsten und lautesten Reaktionen seitens staatlicher Stellen und der Öffentlichkeit auslöste, derjenige am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 1. Juni 2019. Er war ein deutscher weißer Mann ohne Migrationshintergrund, der ein öffentliches Amt bekleidete. Mir drängt sich der Verdacht auf, dass die besonderen Eigenschaften des Mordopfers Walter Lübcke zu den Gründen gehören könnten, warum in seinem Fall die Aufregung größer zu sein schien als bei all den anderen rassistischen Morden, die vorausgegangen waren. Sollte dieser Verdacht zutreffen, wäre das nicht nur eine himmelschreiende Schande. Es wäre auch einer der klarsten Beweise dafür, dass das deutsche Problem mit dem Rassismus sich nicht auf den Wahnsinn von Einzeltätern oder Randgruppen beschränkt, deren Denkweise den Boden der Menschlichkeit und Vernunft verlassen hat, und dass das rassistische Denken mitten durch unsere Gesellschaft geht, und zwar von ganz unten bis ganz oben. Wenn wir zulassen, dass wir in unserer Empörung, Wut und Trauer nach der Herkunft und Stellung der Opfer Unterschiede machen, hat der Rassismus schon einen wichtigen Sieg in unseren Köpfen errungen.
Das Wiederaufleben des deutschen Rassismus
Das Gefährliche am gegenwärtigen Wiedererstarken des deutschen Rassismus – eine Formulierung von zugegebenermaßen ungeheurer Tragweite im Hinblick auf die deutsche Geschichte, aber tragischerweise eine leider auf Fakten beruhende – besteht in seinem seit 1945 nie zuvor in Deutschland erreichten Rückhalt in Gesellschaft, Staat und Politik. Rassistisches Denken, sei es nun direkt vom Nationalsozialismus beeinflusst oder nicht, findet sich in allen Schichten der Gesellschaft, vom antisemitisch herumpöbelnden Hartz-IVer bis zu feinbezwirnten geistigen Brandstiftern vom Schlage eines Hans-Georg Maaßens. Es findet sich im privaten Bereich, in den sozialen Medien, in der Presse, im Buchwesen, aber auch in der Politik, etwa bei faschistischen Politikern wie Björn Höcke und dem Rest der AfD.
Die Rolle der deutschen Behörden
Um zu verstehen, warum es zu rassistischen Mordanschlägen wie dem in Hanau oder dem auf die Synagoge von Halle an der Saale am 9. Oktober 2019 kommen konnte, muss man vor allen Dingen die Rolle der deutschen Behörden bei der gegenwärtigen Renaissance des Rassismus begreifen. Am einfachsten ist dies durch einen Blick auf das Phänomen NSU und seine Folgen möglich.
Peter Beuth, Justizminister desjenigen Bundeslandes, in dem die rassistischen Morde von Hanau geschahen, rechtfertigte die Geheimhaltung der hessischen NSU-Akten für 30 Jahre so: „Ansonsten könnten die Verfassungsfeinde selbst diese Informationen nutzen, um unsere gemeinsamen Werte zu bekämpfen oder Menschen gezielt zu gefährden.“
„Ansonsten“?! Nachdem der NSU neun Menschen aus Motiven, die rassistischer nicht hätten sein können, ermordet hatte, fantasiert der hessische Justizminister also, dass Verfassungsfeinde „unsere gemeinsamen Werte“ „ansonsten“, also für den Fall einer noch nicht vorhandenen Eventualität, angreifen und Menschen gezielt gefährden könnten. Als ob durch die Mordtaten des NSU – und all die anderen rassistischen Morde im wiedervereinigten Deutschland – alles, was wir an gemeinsamen Werten haben können, nicht bereits bis aufs Mark angegriffen und Menschen nicht nur „gezielt gefährdet“, sondern in Dutzenden von Fällen ermordet worden wären.
Wer sich einige Minuten lang außerhalb des von staatlichen deutschen Stellen propagierten Einzeltätermythos über den NSU, der nur die drei Kernfiguren als Täter in den Fokus stellt, umschaut, wird rasch die zahlreichen Hinweise darauf erkennen, dass dort etwas mehr als faul ist. Die Aktenvernichtungen, widersprüchlichen Aussagen, unbearbeiteten Hinweise auf Helfer und Unterstützer und das undurchsichtige Netzwerk der V-Leute sind nur einige davon.
Warum die Mordserie des NSU im Hinblick auf den Unwillen und die Unfähigkeit, sich dem Problem des deutschen Rassismus konsequent zu stellen, trotz vergleichbarer Opferzahlen unvergleichlich aussagekräftiger ist als die Morde von Hanau, geht erneut aus den Worten des hessischen Justizministers Beuth im Kontext der NSU-Aktenverschließung hervor. 2021 sprach er auch folgende simple Wahrheit aus: „Für die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden ist es immanent, dass sie ihre Arbeitsweise nicht für jeden offenlegen können.“
Jeder, der sich mit der Geschichte und Funktionsweise von Geheimdiensten seit Julius Cäsar einmal befasst hat, muss zustimmen, dass Beuth in einem formalen und technischen Sinne unbestreitbar recht hat. Es gibt keine Geheimdienste, die ihre Arbeit offenlegen, sonst wäre es eben keine Geheimdienste.
Der deutsche Rechtsstaat hat sich selbst schachmatt gesetzt
Im Kontext der NSU-Verbrechen hat diese Feststellung aber Konsequenzen, welche die Existenz des deutschen Rechtsstaates und somit auch die grundlegende Legitimation der Existenz und des Agierens deutscher Behörden einschließlich der Geheimdienste und anderer Sicherheitsbehörden insgesamt in Frage stellen.
Denn zum einen kann man aus der Aufrechterhaltung des „Geheim“-Status der Akten indirekt schließen, dass der deutsche Staat auf eine Weise in die Mordserie verstrickt ist, die er nicht gerne offenlegen möchte. Zum anderen, und das ist der eigentlich gravierende und verstörende Aspekt, wird das Interesse an der Aufklärung von Morden der „Arbeit der Sicherheitsbehörden“ untergeordnet. Artikel 2 des Grundgesetzes besagt immerhin: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Nach der Vision Beuths soll es demgegenüber ein staatliches Interesse geben, das über dem Recht der Bürger auf ihr Leben und somit ihrem Recht auf staatliches Eingreifen im Falle der Verletzung dieses grundlegendsten aller Güter stehe. Welches staatliche Interesse mag dies wohl sein?
Am Fall NSU und den Äußerungen Beuths kann man ablesen, dass deutsche Behörden nicht einmal im Ansatz begriffen haben, was die Stunde geschlagen hat. Statt dass der Staat seine eigenen Behörden vom Verdacht der Verwicklung in rassistische Morde befreit, indem er beispielsweise die inkriminierten Behörden (wie den hessischen Verfassungsschutz) auflöst und neu gründet, ordnet man das höchste Rechtsgut des Menschen, nämlich das auf Leben, irgendwelchen „Arbeits“-Interessen unter, die durch Bürokratenvokabeln wie „immanent“ verbrämt werden.
Keine Aussicht auf Heilung
Die Schließung und Neugründung von Geheimdienstbehörden ist natürlich ein Akt, der jeden Staat bis aufs Mark erschüttern würde. Niemand wird das leugnen. Anderseits zeigen der Fall NSU oder auch das Agieren von Hans-Georg Maaßen, dass der deutsche Rassismus längst in den Geheimdiensten angekommen ist. In der Güterabwägung – hier Aufarbeitung der rassistischen Verbrechen um den Preis tiefgreifender Reformen im Staatsapparat, dort Aufrechterhaltung der bestehenden, unter dem Verdacht der Begünstigung rassistischer Taten stehenden Behörden um den Preis der Inkaufnahme der weiteren Durchsetzung Deutschlands mit rassistischen Strukturen und Denkweisen – entscheidet man sich für Letzteres. Soll man hier historische Parallelen ziehen, etwa zur halbherzigen Entnazifizierung nach 1945?
Wenn der deutsche Staat nicht in der Lage ist, sich vom Ruch der Verstrickung in rassistische Morde zu befreien, wie sollte man dann erwarten, dass die deutsche Gesellschaft es vermöge?