Ein Jahr nach dem Hanau-Anschlag – Eine Zäsur, aber nicht für alle
Am 19. Februar 2020 ermordete Tobias R. in Hanau insgesamt zehn Menschen: Acht Männer und eine Frau, alle mit Migrationshintergrund. Danach brachte er in der elterlichen Wohnung zunächst seine Mutter und dann sich selbst um.
(AFP)

Drei seiner Opfer waren Deutsche, zwei Türken, einer war Bulgare, einer Rumäne, einer Bosnier, einer besaß sowohl die deutsche als auch die afghanische Staatsangehörigkeit. Das jüngste Opfer war gerade mal 20 Jahre alt, das älteste 37.

Hanau hat Deutschland nicht nur aufgeschreckt. Der Anschlag bedeutete vielmehr eine Zäsur. Es war der Moment, in dem Politiker und Sicherheitsbehörden nicht länger verdrängen konnten, dass Deutschland 75 Jahre nach dem Untergang des Nationalsozialismus und 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ein ernsthaftes Problem mit Rechtsextremismus hat.

Die tödlichen Schüsse von Hanau waren im vergangenen Jahr bereits der dritte blutige Anschlag innerhalb von Monaten. Im Sommer 2019 hatte ein mittlerweile verurteilter Rechtsextremist den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch einen Kopfschuss auf seiner Terrasse regelrecht hingerichtet. Lübcke war in den Wochen vor seiner Ermordung wegen seiner Haltung in der Flüchtlingspolitik bundesweit zur Zielscheibe für rechte Hasspropaganda geworden. Fünf Monate vor Hanau versuchte in Halle ein Mann, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur ein Massaker unter Juden anzurichten. Weil die Eingangstür der Synagoge standhielt, erschoss der Rechtsextremist auf der Straße zwei Passanten.

Über Jahre hinweg hatte die Aufmerksamkeit des Verfassungsschutzes vor allem dem Treiben von Islamisten gegolten. Es war die Zeit, in der Horst Seehofer noch kein Innenminister war, sondern zuallererst Wahlkämpfer für die CSU. Es war die Zeit, in der es nicht nur ihm opportun erschien, der AfD Stimmen abzujagen, indem er sich an ihrem Populismus orientierte. Die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin bezeichnete Seehofer damals als ”Herrschaft des Unrechts”. Rechtsextremisten konnten in diesen Jahren weitestgehend ungestört ihre Netzwerke ausbauen und ihre Ideologie verbreiten. Laut aktueller Kriminalitätsstatistik hat sich die Szene mittlerweile radikalisiert. Mehr als die Hälfte der über 41 000 politisch motivierten Straftaten in Deutschland im Jahr 2019 werden demnach der rechtsradikalen Szene zugeordnet. Rechtsextremismus ist laut Bundesinnenminister Horst Seehofer inzwischen die “größte Bedrohung im Land”. Die Stimmung in der Politik und bei Behörden hat sich gewandelt. Mehrere Landesverbände der AfD wurden vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuft, und auch als Gesamtpartei rückt die AfD dieser Einstufung näher.

Alarmierend ist auch die 2020 deutlich angestiegene Zahl von Rechtsextremisten mit Waffenschein. Sicherheitsbehörden hatten im Dezember rund 1200 tatsächliche und mutmaßliche Rechtsextremisten mit legal erworbenen Waffen auf dem Schirm, ein Anstieg um mehr als ein Drittel gegenüber dem Vorjahr.

Angesichts dieser Entwicklung ist es zwar ein unmissverständliches Zeichen, wenn der Bundespräsident zum ersten Jahrestag des Anschlags erneut nach Hanau reist, um bei einer zentralen Gedenkfeier an die Opfer zu erinnern. Doch sicherer fühlen sich deren Angehörige deshalb nicht.

Erst im Dezember beklagten sie sich bei einer Demonstration in Hanau öffentlich darüber, dass der Vater des Täters genau wie sein Sohn eine tickende “Zeitbombe” sei. Nur wüssten die Behörden dieses Mal Bescheid. Der 73-Jährige fordert unter anderem die Waffe seines Sohnes zurück und dass alle Gedenkstätten, die an die Opfer des Anschlags erinnern, entfernt werden. Hans-Gerd R. sieht darin Volksverhetzung. In den Ermittlungsakten finden sich wirre, rassistische Äußerungen und Verschwörungstheorien.

Der rassistische Anschlag von Hanau geht auf das Konto eines Rechtsextremisten, stellte das Bundeskriminalamt nach einigem Zögern klar. Nach mehreren Medienberichten war es der Behörde wichtig, Tobias R. nicht als verwirrten Verschwörungstheoretiker gelten zu lassen. Dahinter steht sicher auch die Einsicht, dass beim Thema Rechtsextremismus der Blick auf den klassischen Neonazi die Sicht längst realitätsfern verengt.

Wann wird aus wirren Verschwörungstheorien Rechtsextremismus?

Corona hat die Gesellschaft weiter polarisiert: Waren es 2015 noch Flüchtlinge, über die gestritten wurde, sind es heute Corona-Zahlen und Impfungen. Den klassischen Medien wird in dieser Diskussion zunehmend misstraut. Soziale Netzwerke laufen ihnen als Informationsquelle mehr und mehr den Rang ab. Dort sind aus Zweiflern längst Empörte geworden. Und in ihrer Wut brechen längst nicht nur Rechtsradikale ungeniert mit jahrzehntelang geltende Tabus. Da wird vor angeblich tödlichen Corona-Impfungen mit dem Hinweis gewarnt “Sagt nicht, ihr hättet nichts gewusst, wie damals bei den Juden!“ Da vergleichen sich Teilnehmer von Corona-Demos mit Anne Frank und Sophie Scholl. Die absurde und verharmlosende Gleichstellung des Holocausts mit Corona-Impfungen ist nichts mehr, wofür sich ein wütender Bürger schämen muss.

Hanau war eine Zäsur für Politiker und für Sicherheitsbehörden, nicht aber für die Gesellschaft insgesamt. Dort sind Rechtsextremisten mit ihren Ideologien weiter auf dem Vormarsch.

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