Die Reconquista auf dem Balkan: Ethnische Säuberung und Völkermord
Am 11. Juli jährte sich der Völkermord in Srebrenica. Doch dies war nicht der einzige Völkermord auf dem Balkan. In den letzten dreihundert Jahren fand eine ethnische Säuberung gegen Muslime statt, sodass eine neue Reconquista vollzogen wurde.
Der Screenshot vom niederländischen Fernsehen zeigt holländische UN-Soldaten in Potocari, Bosnien-Herzegowina, vor hunderten von moslemischen Zivilisten, die aus dem nahegelegenen Srebrenica vor serbischem Terror geflüchtet waren. (DPA)

Am 11. Juli 1995 nahmen serbische Truppen Srebrenica ein, das zuvor von der UNO zur Sicherheitszone erklärt worden war. Vor den Augen der niederländischen UN-Friedenstruppen wurden 8372 muslimische Männer systematisch ermordet. Es ereignete sich also in Europa, wo man nach der Katastrophe des Holocaust ein „Nie wieder!“ skandierte, erneut ein Völkermord. Weder die Vereinten Nationen noch NATO, EU oder andere internationale Organisationen konnten diesen Völkermord verhindern.

Der Völkermord und die ethnische Säuberung an muslimischen Bosniaken in Srebrenica und ganz Bosnien waren nicht der erste Völkermord und die ersten ethnischen Säuberungen auf dem Balkan und in Osteuropa. Und in Anbetracht der aktuellen islamophoben Hassreden und dem Rassismus in Europa bzw. auf dem Balkan sieht es leider so aus, als ob Srebrenica nicht der letzte Völkermord und nicht die letzte ethnische Säuberung bleiben wird.

Ethnische Säuberungen gegen Muslime auf dem Balkan

In den letzten dreihundert Jahren in der Geschichte des Balkans wurden dort eine Reihe von Völkermorden und ethnischen Säuberungen durchgeführt. Nach der Zweiten Belagerung Wiens fanden auf dem Balkan und in Osteuropa eine Art neue Reconquista statt, ähnlich der Entmuslimisierung damals in Andalusien. Bis dato wurden nur wenige ethnische Säuberungen und Völkermorde an Muslimen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Dennoch ist eines aber klar, nämlich dass die muslimische Bevölkerung auf dem Balkan, die einst in der Mehrheit war, nunmehr nur noch eine Minderheit darstellt.

Auch wenn die ethnische Zugehörigkeit ein wichtiger Faktor für die Massaker war, die im Laufe der Zeit auf dem Balkan stattfanden, so wurden die meisten Menschen aufgrund ihres muslimischen Glaubens zu Opfern. Die Vertreibungen und Massaker blieben dabei nicht nur auf den Balkan beschränkt, sondern trafen auch eine große Zahl von Menschen auf der Krim, im Kaukasus und in Anatolien, auch dort, weil sie Muslime waren.

Laut Justin McCarthy verloren zwischen 1821 und 1922 fünf Millionen Muslime auf dem Balkan, in Anatolien und dem Kaukasus ihr Leben, während etwa 5,5 Millionen Menschen vertrieben wurden. Deshalb sollten die auf dem Balkan ausgeübten Massaker nicht getrennt von denen in Anatolien und im Kaukasus betrachtet werden.

Beispiele für Völkermorde auf dem Balkan

Der Völkermord in Bosnien und Herzegowina im Juli 1995 war das vorläufig letzte von zahlreichen Massakern an Muslimen seit dem 19. Jahrhundert auf dem Balkan. Nur mit der Kenntnis der historischen Umstände und der vergangenen ethnischen Säuberungen gegen die Muslime auf dem Balkan ist der Völkermord von Srebrenica überhaupt zu verstehen.

Nach dem Aufstand der Griechen und der daraus resultierenden Unabhängigkeit, die 1821 begann, wurden beispielsweise zunächst osmanische Staatsbeamte auf der Halbinsel Peloponnes umgebracht und anschließend die Zivilbevölkerung massakriert. Dabei wurden zwischen dem 26. März und dem 22. April etwa 15.000 Muslime getötet und 3.000 Bauernhöfe und Häuser zerstört. Während die Mehrheit der türkischen Bevölkerung in Städten und Gemeinden systematisch ermordet wurde, fielen teils auch muslimische Frauen in die Hand wohlhabender griechischer Familien und wurden versklavt.

Viele weitere Aufstände auf dem Balkan verliefen wie der griechische. Ausnahmslos bei allen Revolten wurde die muslimische Bevölkerung, meist Türken, systematisch und brutal ermordet. Eines dieser Massaker an Muslimen wurde 1876 von Bulgaren ausgeübt. Hier richteten sich besonders viele Gewalttaten insbesondere gegen Frauen, und etwa 17 % der muslimischen Bevölkerung in der Region kamen ums Leben und 34 % wurden aufgrund der gemeinsam geplanten und ausgeführten Aktionen von Kosaken und Bulgaren zu Flüchtlingen.

Massaker an Muslimen während der Balkankriege

Eines der weiteren zahlenmäßig großen Massaker an Muslimen auf dem Balkan wurde während der Balkankriege verzeichnet. Lebten 1911 in den Regionen Griechenland, Bulgarien und Jugoslawien noch 2.315.293 Muslime, sank diese Zahl in diesen Regionen lebenden Muslime nach den Balkankriegen auf 870.114. Insgesamt verschwanden während der Balkankriege 62 % der in diesen Regionen lebenden Muslime durch Tod bzw. infolge der ethnischen Säuberungen. Somit verloren insgesamt allein 27 % der imeuropäischen Teil des Osmanischen Reichs lebenden muslimischen Bevölkerung ihr Leben während der Balkankriege.

Das jüngste Massaker an der muslimischen Bevölkerung auf dem Balkan war der Völkermord von Srebrenica. Nach dem Zerfall Jugoslawiens und dem Beginn des Prozesses der neuen Grenzziehungen betrachteten die Verfechter des serbischen Nationalismus die bosnischen Muslime als Hauptbedrohung für die Verwirklichung ihres Zieles eines Großserbiens. Neben dem systematischen Massaker an der Zivilbevölkerung während des Krieges wurde zudem das im Osten von Bosnien liegende Srebrenica am 11. Juli 1995 von serbischen Truppen unter dem Kommando von Ratko Mladic besetzt. In der ersten Woche der Besatzung wurden 8.372 bosnische Zivilisten auf brutalste Weise ermordet. Mladic ordnete das Massaker an der Zivilbevölkerung in der von ihm eingenommenen Region mit den Worten „Endlich ist es an der Zeit, sich an den Türken (Muslimen) in diesem Land zu rächen“ an.

Islamophobie nimmt auch auf dem Balkan (wieder) zu

Bei näherer Betrachtung wird ersichtlich, dass die Islamophobie, die als antimuslimischer Rassismus definiert wird, auf dem Balkan wie auch im Rest der Welt ernsthafte Ausmaße annimmt. Obwohl die Flüchtlingsproblematik großen Einfluss auf den Aufstieg rechtsextremer Kräfte und der Islamfeindlichkeit in Europa hat, finden auch Angriffe gegen die muslimische Bevölkerung auf dem Balkan statt, die schon immer in dieser Region lebten. Es kommt in den Balkanstaaten zu verbalen und körperlichen Angriffen auf Gotteshäuser und Muslime, letztgenannte werden als „ernsthafte Bedrohung“ angesehen. In einer 2020 in Rumänien durchgeführten Umfrage beispielsweise gaben 62 % der Bevölkerung an, dass sie Muslime als eine Gefahr für ihr Land betrachten. Darüber hinaus gibt es Übergriffe, die basierend auf dieser Wahrnehmung der Bedrohung zu physischen und verbalen Angriffen führen. Als Beispiele für diese ernstzunehmende antimuslimische Haltung auf dem Balkan können geschriebene Hassmitteilungen auf Schweineköpfen in Griechenland dienen, die in einer von den Osmanen stammenden Moschee hinterlegt wurden, kopftuchtragende Schulmädchen in Bosnien, die verbaler und körperlicher Gewalt ausgesetzt werden, in Brand gesteckte Moscheen im Kosovo, auf offener Straße Angriffen ausgesetzte Muslime in Serbien und das Auftragen der Aufschrift „Plevlja wird Srebrenica folgen“ an Gotteshäusern in Montenegro.

Der (vorerst) letzte Völkermord: Srebrenica

Bei der Betrachtung der historischen Entwicklungen können wir festhalten, dass in erster Linie Muslime Opfer der politischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan waren und massakriert wurden. Der Völkermord an den Muslimen von Srebrenica wurde mitten in Europa vor den Augen der europäischen Staaten verübt. Hinzu kommt, dass mit dem wachsenden Einfluss der aufstrebenden Rechtsextremen in Europa und auf dem Balkan, wie aber auch im Rest der Welt, der antimuslimische Rassismus von Tag zu Tag sichtbarer wird und zunächst verbale Übergriffe im Laufe der Zeit zu körperlichen Übergriffen werden. Besonders bedenklich ist die Normalisierung des antimuslimischen Rassismus. Dass man mit Peter Handke jemandem, der den Völkermord von Srebrenica leugnet, 2019 den Literaturnobelpreis verliehen hat, obwohl er den damaligen serbischen Führer Milosevic aufgrund des Völkermordes von Srebrenica öffentlich lobte, zeigt, dass keine Lehren aus dem Völkermord in Srebrenica gezogen worden sind und dieser Völkermord eigentlich normalisiert wird. Wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, steht zu befürchten, dass der Völkermord von Srebrenica und die ethnische Säuberung der muslimischen Bevölkerung auf dem Balkan zwar nicht die ersten, aber leider auch nicht die letzten ihrer Art sein werden.

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