Der Pariser Blick auf Berlin
Ob es um die Energiepolitik, die Zukunft der EU oder die transatlantischen Beziehungen geht, Frankreich und Deutschland sind schon lange nicht mehr im Tandem.
Emmanuel Macron (Reuters)

Deutschland ist trotz Anspruch auf eine Führungsrolle in der EU meist mit sich selbst beschäftigt. Infolge der Koalitionsverhandlungen ist dies noch mehr der Fall. Berichterstattung jenseits deutscher Innenpolitik und Personaldebatten sucht man in deutschen Nachrichten vergeblich. Selbst auf Energiekonferenzen habe ich den Eindruck, dass die Nabelschau dominiert. Der französische Atomstrom bewahrte das deutsche Stromnetz oft vor Versorgungsengpässen, seitdem Kanzlerin Angela Merkel im März 2011 ohne Absprache mit den Nachbarn die Energiewende verkündete.

Die Energiekrise

Während seit Jahr und Tag eine Art Weltuntergangstimmung die deutsche Debatte bestimmt, wenn es um Klimawandel und Atomkraft geht, setzt man in Frankreich weiterhin auf Nuklearenergie, die rund 80 Prozent der Elektrizität produziert. Angesichts der aktuellen Preisspirale beschloss die französische Regierung einen Deckel für die Tarife und Ausgleichszahlungen für Personen mit niedrigem Einkommen. Anders verhält es sich in Deutschland, wo dieses Thema ohnehin derzeit nur am Rande wahrgenommen wird und die Energierechnungen weiter steigen.

In Paris sitzen den Politikern die Proteste der „Gelbwesten“ (gilets jaunes) von 2018 infolge der damals erfolgten höheren Besteuerung von Treibstoff noch in den Knochen. Die Sorge vor sozialen Unruhen ist groß. Auch in jedem deutschen Auto liegt eine solche gelbe Warnweste, die vor einigen Jahren zum leuchtenden Symbol des Protests wurde. Ob deutsche Bürger angesichts schwindender Kaufkraft auf die Straßen gehen?

Die EU verwalten oder gestalten?

Frankreich befindet sich bereits im Wahlkampf; Präsident Emmanuel Macron, dessen Bewegung REM (République en Marche) parlamentarisch sehr geschwächt ist, stellt sich im April 2022 den Wahlen. Damit steht vieles auf EU-Ebene still. Auf seine Europa-Rede an der Sorbonne vor genau vier Jahren im September 2017, in der Macron Ideen zur Neugestaltung der EU vorlegte, erhielt er nie eine Antwort von Kanzlerin Angela Merkel. Während französische Präsidenten der europäischen Integration gerne einen persönlichen Stempel aufsetzen bzw. den internationalen Radius des Landes via Europa definieren, gehen deutsche Regierungen seit jeher pragmatischer vor. Berlin administriert mehr, als den großen Wurf zu machen. Europa bleibt dabei immer nur ein Schlagwort.

Merkel ist bei den Franzosen beliebt

Der besonders trockene Zugang von Kanzlerin Merkel gefiel den Franzosen, die ihre mächtigen Präsidenten mit Hang zur Inszenierung zunehmend kritisch beäugen. Die deutschen Bundestagswahlen vor einer Woche beschäftigten die Franzosen nicht besonders. Wenn dazu berichtet wurde, dann doch eher mit einer Prise Wehmut zum Ende der Ära Merkel. Mit ihren umstrittenen Entscheidungen in der Migrationsfrage und Energiepolitik beschäftigen sich die Franzosen weniger; die Person Angela Merkel hat ihre Fans in der Bevölkerung.

U-Boot-Krise und die Folgen

Seit Wochen beherrscht ein Thema die französische Öffentlichkeit wie kaum ein anderes: die Auflösung des Vertrags zur Lieferung französischer U-Boote nach Australien, das nun atomgetriebene U-Boote aus den USA kaufen will. Der transatlantische Haussegen hängt sehr schief. Hatte Macron bereits vor zwei Jahren die NATO für „hirntot“ erklärt, so wird nun der Ruf nach europäischen militärischen Strukturen noch lauter. Die aktuelle EU-Kommission versteht sich als geopolitische Kommission. Wenn ein EU-Mitglied geopolitisch agiert, dann ist dies Frankreich. Gerade mit Blick auf den Pazifik und die Positionierung der EU im asiatischen Raum hat Paris Ideen und Mittel. Nicht so Deutschland oder andere Mitglieder. Der Riss geht tief und wird die transatlantischen Beziehungen noch für geraume Zeit belasten.

Deutsche Politiker stellten sich zwar demonstrativ hinter Paris, doch mit den USA will es sich niemand in Berlin verscherzen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist gewissermaßen die Erfindung von Macron, der sie im Herbst 2018 ins Spiel brachte. Für sie kann dieses Thema noch zu einer Belastungsprobe werden, denn den zentraleuropäischen EU-Staaten stehen die USA via NATO näher als Frankreich. Paris schmiedet daher weitere Allianzen, um mehr außenpolitischen Radius zu gewinnen.

In Deutschland hatten Außenpolitik und Diplomatie traditionell das Nachsehen. Als Otto von Bismarck nach der ersten großen deutschen Vereinigung 1871 ein Außenamt in Berlin gründete, hatte er Mühe, Mitarbeiter zu finden. Wer Karriere machen wollte, ging lieber zum Militär als an eine Botschaft. Die moderne Diplomatie hingegen wurde in Frankreich erfunden und geprägt. Auch dies wirkt nach.

Der starke Zentralstaat

Den öffentlichen Dienst lässt sich Frankreich einiges kosten, aber dafür funktionieren Katastrophenschutz und die Grundversorgung im ländlichen Raum. Ein Starkregen führt nicht zu Hunderten Toten wie im letzten Sommer in Deutschland. Der Staat ist über die Präfekten effizient vertreten. Der deutsche Föderalismus hat seine Tugenden, kann aber das Funktionieren des Staates lahmlegen.

Die Pandemie beherrscht nicht mehr das politische Pariser Tagesgeschehen, die Schulen funktionierten in Frankreich im Gegensatz zu Deutschland oder Österreich durchgehend seit Herbst 2020. Die Vorgaben sind klarer, die Gesamtstimmung ist um einiges entspannter als östlich des Rheins. Auch sonst ist die Lebenslust sichtbarer. Die Leichtigkeit des Seins ist nicht unbedingt eine deutsche Eigenschaft.

Mit einer Mischung aus traditioneller Überheblichkeit und Sorge über die eigene hohe Staatsverschuldung blickt Paris auf die Ära nach Angela Merkel in Deutschland. Das Gespenst der Inflation taucht wieder auf. Das Tandem Paris-Berlin wird weiter funktionieren müssen, aber der Schwung alter Zeiten ist schon lange dahin.

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